Alle fünf waren da, dazu noch die anderen zehn Kinder, die die Ecken des Raumes füllten, und es war ein leises Stimmengewirr und eine unruhige Energie zu spüren. Das staubige Morgenlicht, das durch die Ritzen in den Wänden fiel, ließ Staubkörnchen träge über den Köpfen tanzen und tauchte die Luft in einen goldenen Schleier. Es war unordentlich und vielleicht ein bisschen chaotisch, aber Amberine konnte nicht leugnen, dass es sich lebendig anfühlte.
Sie teilten sich auf, jeder Lehrer nahm seinen Platz ein.
Es war mittlerweile eine eingespielte Routine: Elara nahm Vera und Lina mit zu einem Stapel staubiger Folianten, die trotz ihrer ramponierten Einbände überraschend fortgeschrittenes Wissen über die Struktur von Glyphen enthielten. Vera gab sich gerne unbeeindruckt, aber Amberine hatte sie ein- oder zweimal beim heimlichen Lesen erwischt, wie sie sich nachts ihre eigenen Notizen machte. Lina hingegen liebte Details und verschlang jede Glyphe mit hungrigem Verstand.
Sie waren ein seltsames Duo: die coole ältere Schwester und das kleine Genie mit einer Zunge so scharf wie ein frisch geschmiedeter Dolch.
Maris sammelte Nico und die wildesten Kinder um sich. Sofort begannen Illusionen um sie herum zu sprühen wie Funken aus einem Lagerfeuer. Ein Kind wollte eine rosa Gewitterwolke über Maris‘ Kopf erschaffen, ein anderes bestand auf einer ganzen Reihe von Miniatur-Illusionen, die eine Feenschlacht nachstellten.
Maris behielt die ruhige, warme Geduld bei, die ihre frühere Schüchternheit ersetzt hatte – eine Verwandlung, die Amberine immer noch bewunderte. Sie mochte Illusionen, weil sie genau wusste, wie sie beruhigen oder wütend machen, ablenken oder amüsieren konnten. Die Kinder blühten unter ihrer sanften Anleitung auf, im Guten wie im Schlechten. Und wenn sie aus der Reihe tanzten, konnte sie ihnen im Handumdrehen Illusionen entgegenwerfen, die ultimative Abschreckung.
Amberine sammelte Tamryn und Fennel um sich.
Sie führte sie zur anderen Seite des einzigen breiten Fensters des Waisenhauses, wo die staubigen Strahlen der Morgensonne etwas mehr Licht spendeten. Sie legte drei kleine Übungskugeln hin, von denen jede die Mana-Frequenz eines Kindes erkennen und reflektieren konnte. Ihre Kugeln waren eine leichte Abwandlung der Kugeln, die sie für das Arkane Symposium erfunden hatte, allerdings einfacher und billiger in der Herstellung. Die Kinder schienen immer fasziniert von ihrem sanften Leuchten zu sein.
Fennel stellte seine Tasche vorsichtig ab und sah sich um, als würde er eine Überraschung erwarten. Tamryn war ruhiger und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Er warf einen Blick auf die Übungskugel und dann zu Amberine, als würde er sie um Erlaubnis bitten, anfangen zu dürfen. Sie nickte ihm zu und lächelte ihn beruhigend an. Nicht zu breit – sie wusste, dass Tamryn manchmal unter direkter, überwältigender Positivität zusammenbrach.
Sie begannen mit den Übungen zur Manaprojektion, wobei jedes Kind eine Handfläche auf die Oberfläche der Kugel legte. Als Reaktion auf ihre individuellen Energieflüsse schimmerten sanfte Farbimpulse. Fennels Kugel flackerte in wässrigem Blau und zartem Violett, bevor sie erlosch. Tamryns Kugel leuchtete in einem sanften Goldton, aber eine Welle der Anspannung ließ sie mit weißen Funken aufblitzen.
Sie waren etwa in der Mitte der ersten Übung – grundlegende Projektion und Formkontrolle –, als es passierte. Tamryn atmete tief ein, schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, und die Kugel leuchtete mit einem blassen, wirbelnden Schimmer auf. Für einen Moment sah sie fast perfekt aus, die Farbe war stabil. Dann wurde das Leuchten plötzlich intensiver und es gab einen unregelmäßigen Blitz. Ihm stockte der Atem.
Amberines Sinne waren sofort in Alarmbereitschaft, die Haare auf ihren Armen stellten sich auf. Sie sah, wie seine Hände zitterten und seine Knöchel weiß wurden, als seine Mana aus dem Gleichgewicht geriet. Die Farbwirbel in der Kugel verdrehten sich, Funken tanzten wild in der Luft und drohten, sich zu einer kurzen, aber gefährlichen Überladung aufzubauen. Tamryn erstarrte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf seine eigene Magie, die sich seinem zaghaften Willen zu widersetzen schien.
Die fragile Stille der Konzentration zerbrach.
Er blinzelte und ballte die Fäuste an seinen Seiten, als wollte er seine Kraft zurückholen, aber nicht wusste, wie. Die Kugel zischte, leuchtete für den Bruchteil einer Sekunde hell auf und erlosch dann vollständig, sodass eine unangenehme Stille zurückblieb.
„Hey“, sagte Amberine sanft und hockte sich neben ihn. Ihre Stimme war leise genug, um die dicke Spannung in dem engen Klassenzimmer zu durchdringen. Der Junge – Tamryn – sah aus, als würde er gleich weinen, er atmete in kleinen, unregelmäßigen Zügen und blickte ängstlich zwischen seinen zitternden Händen und der halb erloschenen Kugel hin und her, die gerade mit einem Knacken aus Mana verpufft war.
„Es ist alles in Ordnung“, wiederholte Amberine, diesmal ruhiger, und ermunterte ihn, so zu atmen wie sie. „Das ist kein Versagen. Das ist nur statische Aufladung. Hier. Gib mir deine Hände.“
Er zögerte und warf einen Seitenblick auf Fennel, der ebenfalls mit einer Mischung aus Besorgnis und Erleichterung zusah, dass er nicht an Tamryns Stelle war. Dann streckte Tamryn langsam seine Hände aus.
Amberine nahm sie, die Handflächen nach oben, und spürte, wie kalt und feucht seine Haut war. Es erinnerte sie unangenehm an das erste Mal, als sie versucht hatte, vor Draven eine Forschungsarbeit zu präsentieren – eine Angst, die bis in die Knochen ging und sowohl die Vernunft als auch die Magie erstarren ließ.
„Spürst du das?“, flüsterte sie mit leiser Stimme, während sie seine Hände näher an das schwache Leuchten der Kugel führte. Ihre Daumen streiften leicht die Unterseite seiner Handgelenke. „Dieser Rhythmus – genau dort, in deinem Puls.“ Sie wartete, bis er sich konzentrierte, und beobachtete, wie seine Augen vor Selbstbewusstsein und Verwirrung trüb wurden. „Dieses leichte Flattern unter deiner Haut? Das ist Mana, das versucht, zuzuhören. Aber du schreist es an. Sprich leiser.“
Während sie das sagte, fragte sie sich, wer ihr das beigebracht hatte. Es stand jedenfalls nicht in einem ordentlichen Lehrbuch. Vielleicht war es ein älterer Mentor gewesen, oder vielleicht hatte sie es selbst entdeckt, als ihre eigene Magie zum ersten Mal in einer Funkenwolke auszubrechen drohte. Wie auch immer, es schien ihr wichtig, dieses Wissen jetzt weiterzugeben.
Tamryn starrte ihn unsicher an. Aus der Nähe betrachtet war sein Gesicht dünn, die Wangen noch rund und von einer kindlichen Weichheit, die die darunter lauernde Anspannung nur halb verdeckte. Für einen Moment befürchtete sie, dass sie zu viel Druck ausübte. Kinder wie er zogen sich oft zurück, wenn sie herausgegriffen wurden. Aber dann nickte er, nur eine kleine Bewegung seines Kopfes. Das reichte.
„Okay“, sagte Amberine und atmete aus. „Zusammen, okay?“ Sie beruhigte ihren Atem und achtete darauf, dass er sehen konnte, wie sich ihre Brust hob und senkte. „Einatmen … ausatmen … lass deinen Herzschlag das Tempo vorgeben.“
Sie machten es noch einmal. Ein Atemzug. Zwei. Das Hintergrundgeräusch der Werkstatt – kindliches Geplapper, das Schieben alter Schreibtische, das leise Blubbern von Eintopfresten auf dem Kochstein – schien hinter dem sanften Pulsieren der Mana zu verblassen.
Eine Minute verging, vielleicht zwei. Sie konnte fast spüren, wie seine Angst nachließ und seine Haltung sich entspannte. Die Kugel flackerte wieder auf, weich und geschmeidig, wirbelndes Gold mit einem Hauch von Weiß, das nicht mehr heftig, sondern neugierig wirkte. Tamryns Mana, erkannte sie, war wie ein zögerlicher Vogel, der eher mit Zärtlichkeit als mit Gewalt angehalten werden musste.
Als er das zweite Mal seine Energie kanalisierte, bewegte sich seine Magie. Sanft. Nicht perfekt – an den Rändern gab es ein Zittern, ein leises Zischen von Energie, das sich nicht vollständig auflösen wollte –, aber es ging nicht um Perfektion. Es ging um Ruhe und Selbstbeherrschung. Amberine sah, wie Farbe in der Kugel aufblühte, ein Wirbel aus gedämpfter Brillanz. Sie gestattete sich ein kleines, schiefes Lächeln.
„Das ist Magie“, sagte sie leise, und ihre Stimme klang stolz. Sie ließ seine Hände los und bemerkte, wie seine Fingerspitzen noch leicht zitterten. Mit geübter Geschicklichkeit zeichnete sie eine Rune auf seinen Ärmel – einen kleinen Regulator, subtil, versteckt im zerfetzten Stoff. Gerade genug, um ihm zu helfen, falls er wieder ins Wanken geraten sollte.
Tamryns Augen weiteten sich, als er das leichte Kribbeln der Glyphe an seinem Unterarm spürte. Er blickte auf, und Amberine zwinkerte ihm verschwörerisch zu, als wollte sie sagen: Keine große Sache – nur ein Spickzettel. Seine Schultern entspannten sich ein wenig mehr. Sie hoffte, dass es ihn ermutigen würde, wenn auch nur ein bisschen.
Währenddessen braute sich im Klassenzimmer Chaos zusammen wie ein aufziehender Sturm. Von der anderen Seite drangen lautes Gelächter und gespielte Empörung herüber, wo Maris tapfer versuchte, die „Chaos-Crew“ unter Kontrolle zu bringen. Amberine hörte eine Stimme, die den Lärm übertönte:
„WARUM IST DA EIN FROSCH?“
Einen Moment später schien der gesamte linke Teil des Raumes von grünlichen Illusionen zu wabern. Sie sah eine Gestalt sich wie eine riesige Kröte aufblähen, die Maris von der Taille aufwärts verschluckte, sodass nur noch ihre Beine komisch zu sehen waren. Die Kinder – insbesondere Nico – kreischten vor Lachen, ein wildes Gekicher, das von den Wänden zu hallen schien.
Amberine erhaschte einen Blick auf Maris‘ Gesicht. Sie zuckte nicht zusammen, obwohl ihr Gesichtsausdruck deutlich sagte, dass sie genug Illusionen für einen Morgen hatte. Maris blinzelte einmal, dann löste sie das amphibische Spektakel mit einer einzigen sanften Welle ihrer Magie auf, einem smaragdgrünen Schimmer, der das flackernde Bild der Kröte in harmlose Funken auflöste.
Ihr Blick fiel auf Nico, der vor Stolz strahlte und seine Brust wie aufgeblasen hatte, als hätte er gerade einen preisverdächtigen Trick vorgeführt. Maris war jedoch unbeeindruckt. „Eines Tages“, sagte sie mit unheimlicher Gelassenheit, „werde ich deinen Zauber nicht aufheben. Dann wirst du für immer in einem Froschbauch leben.“ Ihr Tonfall war leicht, aber ihr Blick war so warnend, dass sogar Nico ein wenig quietschte.
Trotzdem quietschten die Kinder um ihn herum vor Vergnügen, einige rollten auf dem Boden, andere hüpften auf ihren Stühlen herum und genossen das Spektakel. Nico schien sogar erfreut, dass er Maris so weit getrieben hatte. Er lebte von dem Adrenalinkick, den ihm seine Illusionen verschafften, und die Klasse war sein Spielplatz.
Auf der anderen Seite des Raumes, an Elaras provisorischem Arbeitsplatz, saß Lina über ihr Pergament gebeugt und kritzelte wie wild. Amberine spürte eine so intensive Konzentration, dass nicht einmal die tobenden Illusionen oder das Frosch-Fiasko ihre Aufmerksamkeit stören konnten. Amberines Neugierde gewann die Oberhand. Sie schlenderte hinüber, schlüpfte zwischen den chaotischen Tischen hindurch und nickte Tamryn beruhigend zu, um ihr zu signalisieren, dass sie gleich zurückkommen würde.
Sie beugte sich über Linas Schulter und bemerkte die Linien und Kurven, die am Rand des Papiers Gestalt annahmen. Ein verdächtiges Symbol, geformt wie ein kleiner Kreis, flankiert von stacheligen Schleifen. Amberine runzelte nachdenklich die Stirn. „Ist das eine modifizierte Abstoßungsschleife?“
Lina grinste verschmitzt, was einen starken Kontrast zu ihrem sonst so stoischen Gesichtsausdruck bildete. „Nein“, sagte sie mit einem zufriedenen Funkeln in den Augen. „Das ist ein Fallenzeichen, um Jungs zu vertreiben.“