„Habe ich etwas kaputt gemacht?“, fragte er mit heiserer Stimme. Die pure Angst in seinen Augen ließ Amberines Herz zusammenziehen. Es war eine Frage, die tiefer ging, als es klang, und sein ängstlicher Tonfall deutete darauf hin, dass er möglicherweise eine irreparable Kluft aufgerissen hatte.
Sie schluckte und trat nah genug an ihn heran, um ihm eine feste, aber beruhigende Hand auf die Schulter zu legen. „Nein“, sagte Amberine sanft, ihr Atem ging noch immer unruhig von der Anspannung der letzten Momente. „Du hast uns nur überrascht.“ Sie hielt ihre Stimme warm und bestimmt, als könnte ihre Zuversicht ihn in der Ruhe verankern, die sie langsam wiedererlangten.
Er blickte unsicher auf, seine dunklen Augen huschten von ihrem Gesicht zu der Kugel aus Emotionen, die noch schwach in ihrer anderen Hand glühte, dann zu den schwachen Resten der Magie, die um die zerbrochenen Kreidezeichen schwebten. Die wenigen Kinder, die noch im Raum geblieben waren – oder an der Tür stehen geblieben waren – murmelten nervös und scharrten fasziniert mit den Füßen.
Maris, die mit atemloser Eile herbeigeeilt war, schenkte Tamryn ein freundliches Lächeln. Sie war noch immer außer Atem von ihrem Sprint, ein dünner Schweißfilm bedeckte die Spitzen ihres kurzgeschnittenen Haares, aber in ihren Augen leuchtete unverkennbare Anteilnahme. „Überraschungen bedeuten Potenzial“, sagte sie leise, aber deutlich genug, dass der Junge sie hören konnte. „Du hast nichts falsch gemacht.“
Die Anspannung in Tamryns Stirn ließ etwas nach. Er blinzelte, nahm ihre Worte auf, als würde er sie abwägen, und dann lächelte er zum ersten Mal, seit er in dieses Waisenhaus gekommen war. Es war ein Lächeln, das von Müdigkeit und anhaltender Sorge geprägt war, aber dennoch ein Lächeln – schüchtern, aber hoffnungsvoll. Seine kleine Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug, und die Nachwirkungen der Panik ließen allmählich nach.
Auf Amberines anderer Seite stand Elara still da, die Arme vor ihren goldbesetzten Ärmeln verschränkt. Ihre stoische Haltung blieb unverändert, aber ihr Blick wanderte durch den Raum und nahm alles in sich auf, von den leuchtenden Glyphen an den Wänden bis zu den verstreuten Kindern, die Tamryns Beinahe-Zusammenbruch miterlebt hatten. Sie nickte leicht, um zu bestätigen, dass die unmittelbare Gefahr vorüber war.
Die Kinder wurden kurz darauf nach draußen geschickt, um eine Pause zu machen – einige hüpften, andere waren noch ganz benommen, ein paar flüsterten aufgeregt über das „Lichtspektakel“, das fast schiefgegangen wäre. Ihre Schritte hallten in chaotischen Gruppen wider und bildeten einen Chor aus lebhaftem Geplapper, als sie in den kleinen Hof hinter dem Gebäude strömten.
Die Spannung, die in der Luft gelegen hatte, löste sich langsam, wie eine gespannte Bogensehne, die endlich nachgab. Eine Stille blieb jedoch zwischen den drei älteren Schülerinnen zurück, die im Klassenzimmer geblieben waren – Amberine, Elara und Maris –, jede in ihren eigenen Gedanken versunken.
Amberine atmete tief aus, ohne bemerkt zu haben, dass sie den Atem angehalten hatte. Das Adrenalin prickelte noch immer an ihren Sinnen, und die Erinnerung an Tamryns wilder Angriff spielte sich in ihrem Kopf immer wieder ab. „Ich muss mich setzen“, murmelte sie halb zu sich selbst, halb zu den anderen. Mit einer Art betäubter Anmut ließ sie sich auf eine der Bänke fallen. Das Holz knarrte unter ihr, alt und uneben, aber sie bemerkte es kaum.
Maris warf ihr einen besorgten Blick zu, ihre Illusionen von vor wenigen Augenblicken hinterließen noch schwache Funken auf ihrem Umhang. „Alles in Ordnung?“, fragte sie und wischte einen imaginären Staubfleck von der ramponierten Rüstung, die über ihrer Robe befestigt war. Besorgnis verdunkelte ihre sanften Züge, und um ihren Mund bildeten sich Falten.
Amberine nickte schnell, vielleicht zu schnell, als wolle sie sich selbst davon überzeugen. „Mir geht es gut. Nur ein bisschen …“ Sie hielt inne und versuchte, ihre Stimme zu beruhigen. „Ein bisschen aufgewühlt. Ich hätte hier keine Siphon-Abwehr erwartet. Oder irgendeine andere Abwehr.“
Sie drehte den Kopf zur Rückwand, wo noch schwache Spuren von Magie an der Kreide hafteten. Die Formen verblassten bereits, aber die Erinnerung an ihr Leuchten drängte sich ihr in die Gedanken. „Das Symbol an der Wand“, sagte sie laut, mehr um die erdrückende Stille zu durchbrechen als aus einem anderen Grund, „das war nicht nur eine Eindämmungsmaßnahme. Es hat überschüssige Energie abgeleitet. Das ist außerhalb kontrollierter Labore verboten.“
Maris, die neben Tamryns freiem Platz stand, wirkte verunsichert. Ihre neu gewonnene Tapferkeit, die sie auf den Schlachtfeldern des Ritterordens unter Beweis gestellt hatte, zeigte sich in ihrem festen Kiefer. „Er hat das hier angebracht? Für die Kinder?“ Ihre Stimme klang beunruhigt, als wollte sie etwas anderes glauben, aber sie konnte nicht leugnen, was sie alle gesehen hatten.
Elaras Blick wanderte zu den Runen, die zwar noch schwächer als zuvor waren, aber unbestreitbar vorhanden waren. Sie atmete leise aus, und ihre stoische Haltung bröckelte ein wenig. „Nein … für einen von ihnen“, korrigierte sie. „Vielleicht für mehrere. Aber auf jeden Fall für Tamryn.“ Es folgte Stille, eine bedrückende Erkenntnis. Wenn Draven solche Schutzzauber angebracht hatte, musste er genau mit so einem Vorfall gerechnet haben.
Amberine stand wieder auf, als würde die Bank ihre Haut verbrennen. In ihrer Brust brodelte eine Mischung aus Wut und Verwirrung, die mit ihrer Dankbarkeit für Dravens Gründlichkeit kollidierte. Der vorsichtige, kalte, unerschütterliche Draven – warum hatte er es ihnen nicht gesagt? Vertraute er ihnen nicht? Oder wollte er nicht, dass sie sich einmischten?
Sie ging zielstrebig in die hinterste Ecke des Klassenzimmers und ignorierte das Kratzen ihrer Stiefel auf dem abgenutzten Boden. „Er hat Geheimnisse“, murmelte sie, eine halb unterdrückte Anschuldigung. „Aber nicht vor mir, nicht wenn ich es verhindern kann.“
Sie hob die Hand und klopfte zweimal, dann einmal an einen Teil der Wand. Das Muster hatte Draven ihnen beiläufig beigebracht, oder vielleicht hatten sie es selbst entdeckt. Sie konnte sich nicht erinnern. Aber es öffnete sich trotzdem.
Klick.
Die Verkleidung verschob sich mit einem leisen Knirschen. Dahinter lag eine kleine, staubfreie Kammer, ein Raum, der im Vergleich zum abgenutzten Inneren des Waisenhauses seltsam makellos wirkte. Er war voller Bücher und Papiere – ordentlich sortiert, sorgfältig beschriftet, genau die Art von Ordnung, die nach Draven schrie. Der Geruch von Kreide und altem Pergament vermischte sich mit dem schwachen Geruch von magisch behandelten Einbänden.
Amberine trat durch die Öffnung, ihr Herz pochte in ihren Ohren.
Elara folgte ihr, still und wachsam. Maris blieb einen halben Atemzug lang stehen und warf einen Blick zurück in das leere Klassenzimmer. Der Flur dahinter war still, die Kinder waren vermutlich noch draußen und jagten sich unter dem wolkenverhangenen Himmel. Als sie sich vergewissert hatte, dass sie nicht beobachtet wurden, schlüpfte Maris hinter ihnen hinein und ließ die Wand wieder einrasten.
In dem kleinen Raum fühlte sich die Luft seltsam komprimiert an, dick von Geheimnissen. Elara näherte sich dem Schreibtisch, einem robusten Stück dunklem Holz, das von geheimnisvollem Glanz überzogen war. Mit einer einzigen Berührung leuchtete die Oberfläche schwach auf, und Runen wirbelten in einem stillen Tanz über sie hinweg. Das Leuchten erinnerte Amberine an Dravens kalte, aber faszinierende Augen, die alles musterten, ohne etwas preiszugeben.
Elara tippte eine Sequenz ein – zwei schnelle Berührungen in der oberen Ecke, dann ein letzter Tipp an der Seite. Das hatte sie aus jahrelangem Lesen von Dravens heimlich hinterlassenen Hinweisen gelernt. Ein leises Summen ertönte, und eine Schublade sprang auf, wie die letzte Note einer gut gestimmten Melodie.
Amberine wurde nervös. Sie konnte Draven’s missbilligenden Blick fast spüren, obwohl er weit weg war, als hätte er diesen Moment geplant oder zumindest erwartet. Sie zögerte kurz, aber ihre Neugierde war stärker. Sie beugte sich vor und schaute in die offene Schublade.
Darin lagen fest gebundene Tagebücher, deren Einbände unscheinbar waren, aber mit subtilen Runenzeichen verziert waren.
Auf den Buchrücken waren halb alchemistische, halb mathematische Symbole zu sehen – Rätsel an sich. Amberine erkannte sie. Sie waren ihr in Dravens privaten Notizen an der Universität begegnet, immer verschlüsselt, immer unglaublich gründlich. Ihr Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken, in Dravens geheimnisvollem Wissen zu stöbern, einem Schatz an geheimnisvollen Erkenntnissen oder schrecklichen Enthüllungen, die sogar ihre wilde Fantasie in den Schatten stellen könnten.
Sie griff nach einem der Tagebücher, zog es heraus und schlug es vorsichtig auf. Das alte Papier raschelte leise, und der schwache Geruch von Staub und alter Tinte umhüllte ihre Sinne. Eine ordentliche, komprimierte Schrift füllte die Seiten: formelhaft, methodisch, gekritzelt in Dravens unverwechselbarer, kontrollierter Handschrift. Trotz der Verschlüsselung war jeder Buchstabe präzise geformt, wie der Entwurf eines Verstandes, der sich weigerte, auch nur einen Strich der Feder zu verschwenden.
Maris beugte sich näher heran, ihre Neugierde überwältigte die Spuren von Angst, die noch immer in ihren Augen zu sehen waren. „Kannst du das lesen?“, fragte sie leise, ihre Stimme hallte in der Spannung wider, die diesen versteckten Raum erfüllte.
Amberine runzelte die Stirn. Sie blätterte ein paar Seiten um und überflog die Spalten mit unvollständigen Glyphenfolgen und geheimnisvollen Notizen. Einige Symbole erkannte sie aus der fortgeschrittenen Alchemie. Andere schienen völlig neu zu sein und erinnerten sie an die labyrinthartigen Muster, die Draven gerne in seine Vorlesungsnotizen einfließen ließ, wenn er sich mit unbekannten magischen Theorien beschäftigte.
„Teile“, sagte Amberine mit einer Stimme, in der sich Frust und Aufregung vermischten. Sie ließ ihre Fingerspitzen über die komplizierten Codezeilen gleiten, die auf den steifen Seiten des Tagebuchs standen. Der verschlüsselte Text knisterte vor intellektueller Herausforderung, wie ein Rauschen, das sich in ihrem Kopf nur teilweise auflöste. „Genug.“