Die Straßen von Halewick waren unheimlich still, eine hohle Leere erstreckte sich über die zerstörte Stadt. Kein einziger Wachmann. Keine Alarmsignale. Kein leises Flüstern von Überlebenden, die sich verzweifelt über das Chaos austauschten. Es war, als hätte sich der ganze Ort darauf geeinigt, zu vergessen, was passiert war, und die schwelenden Spuren an den verkohlten Wänden zu ignorieren. Das Siegel pulsierte noch schwach und verzerrte die Luft mit dünnen, flackernden Linien.
Eine Warnung. Oder vielleicht ein Versprechen.
Der Wind trug den beißenden Geruch von verbranntem Stein und etwas noch Schärferem mit sich – etwas Unnatürlichem. Es war nicht nur die Zerstörung, die das Feuer hinterlassen hatte, oder die Überreste der zu Staub gewordenen Leichen. Es war die Abwesenheit jeglicher Reaktion, die Stille, in der die Stadt lag, als hätten die Menschen ihre Türen verschlossen und ihre Fenster versiegelt, in der Hoffnung, dass Unwissenheit sie schützen würde.
Kael rückte den Riemen an seiner Schulter zurecht und streifte dabei unbewusst den Griff seines Dolches. Ein kleiner Trost, aber nicht genug, um das ungute Gefühl in seinem Bauch zu vertreiben. Sein Blick schweifte über die leeren Straßen, auf der Suche nach Anzeichen von Leben, aber es war nichts zu sehen. Nicht einmal das Flackern von Kerzenlicht in den Fenstern, keine gedämpften Stimmen aus den Gassen. Nur Stille.
Es fühlte sich an wie auf einem Friedhof.
Liora stand neben ihm und ließ seinen Blick zwischen den Gebäuden hin und her wandern, auf der Suche nach Bewegungen. Seine Haltung war entspannt, aber Kael kannte ihn gut genug, um hinter die Fassade zu blicken. Seine Schultern waren angespannt, seine Finger krallten sich leicht in den Gürtel, wo seine Dolche steckten. Er spürte es auch.
Irgendetwas stimmte hier nicht.
Kael atmete scharf aus und sah, wie sein Atem in der kalten Nachtluft zu kleinen Wölkchen wurde. „Das ist nicht richtig.“
Liora antwortete nicht sofort. Er neigte leicht den Kopf und lauschte. Die Stille dehnte sich aus und lastete schwer auf ihnen. Dann sagte er schließlich: „Sie wussten, dass das passieren würde.“
Kael runzelte die Stirn. „Wer?“
Liora deutete vage auf die leeren Straßen. „Wer auch immer die Fäden zieht. Seyrik oder vielleicht jemand anderes. Diese Stadt sollte reagieren.
Wachen sollten hier sein, Leute sollten reden, flüstern, in Panik sein. Aber das sind sie nicht.“ Seine Stimme war leise, aber mit einem kalten Unterton. „Das heißt, sie wussten es bereits.“
Kael gefiel das nicht. Er zuckte mit den Schultern und versuchte, das beklemmende Gefühl in seiner Brust loszuwerden. „Und wenn sie es wussten, bedeutet das, dass sie uns bereits einen Schritt voraus sind.“
Liora grinste, aber es war kein Spaß darin. „Wann sind sie das nicht?“
Kael antwortete nicht, weil er keine Antwort wusste.
Stattdessen wanderte sein Blick zu dem Torbogen, durch den sie zuvor gegangen waren – die vom Feuer geschwärzte Ruine, die wie ein Skelett an das erinnerte, was hier verloren gegangen war. Und oben darauf saß wie ein Wächter der Rabe.
Er war nicht weggeflogen. Entdecke Geschichten in My Virtual Library Empire
Seine glänzenden, pechschwarzen Federn bewegten sich kaum im Wind, aber seine leuchtenden Augen waren unbeweglich auf sie gerichtet und beobachteten sie. Er neigte leicht den Kopf, als würde er sie einschätzen, und wartete.
Kael kniff die Augen zusammen. „Du schon wieder.“
Der Rabe antwortete natürlich nicht. Er beobachtete sie nur.
Liora folgte seinem Blick und atmete dann tief aus. „Ha. Ich schätze, wir haben unsere Antwort.“
Kaels Lippen pressten sich zu einer dünnen Linie zusammen. Das letzte Mal, als sie dem Vogel gefolgt waren, hatte er sie direkt in eine Todesfalle geführt. Oder vielleicht zur Wahrheit. Die beiden begannen, sich nicht mehr unterscheiden zu können.
„Du schlägst ernsthaft vor, dass wir ihm wieder folgen?“, fragte Kael.
Lioras Grinsen wurde breiter. „Nun, bisher hat er uns noch nicht umgebracht.“
Kael warf ihr einen Blick zu. „Das ist nicht gerade beruhigend.“
Liora zuckte mit den Schultern. „Hast du eine bessere Idee?“
Kael zögerte. Das hatte er nicht. Nicht wirklich. Rellios war verschwunden, ihre letzte konkrete Spur hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst, und wer auch immer das hier orchestrierte, war ihnen immer zwei Schritte voraus.
Und doch stimmte etwas daran nicht. Der Vogel beobachtete nicht nur. Er wartete.
Als wüsste er etwas, das sie nicht wussten.
Kael atmete langsam aus und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Er hatte schon viele seltsame Dinge gesehen, aber er würde nicht anfangen, einem verdammten Vogel zu vertrauen. Und doch …
Der Rabe bewegte sich auf seinem Ast und flog dann mit einem plötzlichen Flügelschlag davon. Er floh nicht. Er verschwand nicht in der Nacht, wie es jedes normale Lebewesen getan hätte. Stattdessen flog er voraus, kreiste einmal über ihnen und flog dann nach Norden, in Richtung Stadtrand.
Er wollte, dass sie ihm folgten.
Kael fluchte leise. „Ich hasse das.“
Liora spottete: „Hast du eine bessere Idee?“ Er hielt seine Stimme ruhig, aber darunter schwang Schärfe mit. „Außerdem glaube ich nicht, dass er dich fragt.“
Als würde er zustimmen, flog der Rabe los, glitt voraus und kreiste dann zurück. Er ließ sie nicht allein. Er führte sie.
Kael atmete durch die Nase aus und setzte sich in Bewegung.
Liora folgte ihm mit leichten, bedächtigen Schritten, jede Bewegung genau kalkuliert. Die Straße schlängelte sich vor ihnen durch die Außenbezirke von Halewick, wo der Nebel dichter wurde und sich wie geisterhafte Finger um ihre Stiefel schlang. Die feuchte Erde quoll unter ihren Schritten, die Luft war schwer vom Geruch nach regennassen Steinen und etwas anderem – etwas Älterem, etwas Muffigem, als hätte das Land selbst den Atem angehalten.
Je tiefer sie vordrangen, desto stiller wurde es.
Kein entferntes Murmeln der Stadt. Kein Wind, der durch die skelettartigen Überreste der Bäume raschelte. Nur das leiseste Geräusch ihres eigenen Atems, ihrer eigenen Schritte. Die Stille war unnatürlich.
Kael warf einen Blick auf Liora.
Er hatte aufgehört zu gehen.
Lioras Hand schwebte nahe dem Griff seiner Klinge, sein Körper war leicht gedreht, der Kopf geneigt, als würde er etwas hören, das Kael nicht hören konnte. Sein Gesichtsausdruck war unlesbar, aber seine Haltung sagte alles.
Kael umklammerte seine eigene Waffe fester. „Was ist los?“
Lioras Blick huschte zur Baumgrenze. Er antwortete nicht sofort, sondern ließ die Stille zwischen ihnen wie eine zu straff gespannte Saite schwingen. Als er endlich sprach, war seine Stimme leise, kaum mehr als ein Flüstern.
„Wir sind nicht allein.“
Kael bekam eine Gänsehaut. Er sah nichts – keine Bewegung zwischen den Bäumen, keine Gestalten, die sich durch den Nebel bewegten –, aber er spürte es. Das Gewicht unsichtbarer Augen, die auf seinen Rücken drückten, die subtile Veränderung in der Luft, als hätte sich etwas außerhalb seines Blickfeldes bewegt.
Der Rabe krächzte schrill und durchbrach die Stille.
Dann flog er in Richtung Stadtrand davon.
Kael zwang sich weiterzugehen und ignorierte sein instinktives Verlangen, umzukehren und irgendwo anders zu sein als hier. Liora folgte ihm, obwohl er angespannt blieb und jeden Schritt vorsichtig setzte, bereit zu reagieren.
Der Wachturm tauchte aus dem Nebel auf wie die zerklüfteten Rippen eines längst toten Tieres.
Sie ragte in der Ferne auf, skelettartig und zerbrochen vor dem blassen Himmel. Die Holzbalken waren zersplittert und vom Feuer geschwärzt, und das Eisentor am Eingang hing schief in verrosteten Angeln. Das Fundament aus Stein war an einigen Stellen rissig, dicke Ranken schlängelten sich wie Adern durch die Brüche. Dieser Ort war einst eine Festung gewesen, ein Wachposten, der die Außenwege von Halewick bewachte.
Jetzt stand er kaum noch.
Kael zögerte.
Hier stimmte etwas nicht. Es war mehr als nur Verfall, mehr als nur Verwahrlosung. Es lag in der Luft, dick und klebrig, etwas, das sich an seinem Hals festsetzte.
Dann schlug ihm der Geruch entgegen.
Blut.
Verbrannte Haut.
Darunter etwas Bissiges, etwas Chemisches, Metallisches. Es krümmte sich in seiner Nase, schwer, anhaltend. Er hatte schon Schlachtfelder gerochen. Das hier war schlimmer.
Liora atmete aus und runzelte leicht die Nase. „Na ja. Das ist unangenehm.“
Kael ignorierte ihn und trat vorsichtig über die Schwelle.
Überall waren Spuren eines Kampfes zu sehen.
Blut verschmierte die Wände in gezackten Streifen, als wäre etwas – oder jemand – dort entlanggeschleift worden. Fackeln waren in Wachspfützen ausgebrannt, einige flackerten noch schwach und warfen lange, sich windende Schatten über den zerstörten Boden. Zerbrochene Waffen lagen auf dem Boden verstreut, Klingen waren abgebrochen und verbogen. Einige davon wurden noch von abgetrennten Händen umklammert.
Kaels Magen zog sich zusammen.
Das war nicht nur ein Angriff.
Wer auch immer das getan hatte, hatte sich Zeit gelassen.
Liora hockte sich neben einen umgestürzten Helm und fuhr mit den Fingern über die verbeulte Oberfläche. „Das ist noch nicht lange her.“
Kael nickte. Das Blut war dunkel, geronnen, aber noch nicht ganz getrocknet. Höchstens ein paar Stunden alt.
Dann hörte er es.
Ein leises Keuchen.
Kaum hörbar in der bedrückenden Stille, ein raues Atmen, das wie aus zerquetschten Lungen klang.
Kael drehte sich ruckartig um und suchte den Raum ab.
In der hintersten Ecke, kaum sichtbar durch die Trümmer und Schatten, kauerte eine Gestalt an der Wand.
Ein Mann.
Seine Rüstung war zerrissen und mit getrocknetem Blut verkrustet. Er atmete schwer und flach, seine Brust hob sich bei jedem keuchenden Atemzug kaum. Eines seiner Beine war in einem unnatürlichen Winkel verdreht, eine gezackte Wunde verlief an seiner Seite und war blutgetränkt.
Kael bewegte sich ohne nachzudenken, stieg über die Trümmer und kniete sich neben ihn.
Die Finger des Mannes zuckten leicht. Seine Augen flatterten auf.
Er versuchte zu sprechen, aber die Worte kamen nur als heiseres Krächzen heraus, verloren zwischen Husten. Seine Lippen waren rissig, als er sich mühsam um Worte bemühte, sein Blick flackerte und war unkonzentriert.
Kael beugte sich näher zu ihm und senkte seine Stimme.
„Ganz ruhig. Was ist passiert?“
Der Mann schnappte nach Luft und rang um Worte. „Rellios … entführt … Norden.“ Er hustete, ein feuchtes, gurgelndes Geräusch, Blut tropfte aus seinem Mundwinkel. Er atmete schwer, sein Körper zitterte vor Anstrengung zu sprechen. „Sie … wussten, dass du kommen würdest.“