In dem Moment, als Kael von der Leiche zurücktrat, begannen die Siegel an den Wänden heftig zu pulsieren, ihr purpurroter Schein wurde heller und tauchte den Raum in ein flirrendes, unwirkliches Licht. Unnatürlich lange Schatten streckten sich über den Stein, verdrehten und wanden sich, als würde etwas Unsichtbares durch sie hindurchgleiten.
Die Luft wurde dick und drückte wie ein Lebewesen auf ihn, füllte seine Lungen mit etwas Schwerem, etwas Unheimlichem. Der Geruch von Verwesung vermischte sich mit etwas Schärferem – etwas Rohes und Elektrisches, wie die statische Aufladung vor einem Sturm.
Seine Instinkte schrien ihn an. Jeder Nerv in seinem Körper war in höchster Alarmbereitschaft, seine Muskeln spannten sich an, als würde er sich auf einen Schlag vorbereiten, den er nicht kommen sah.
„Liora“, rief er scharf und trat zurück zum Tunneleingang. „Wir müssen hier raus.“
Liora war bereits in Bewegung. Seine Finger strichen über die eingravierten Symbole, seine Augen verengten sich, als er ihre gezackten, sich überlappenden Muster nachzeichnete. „Kein Scheiß“, murmelte er mit angespannter Stimme, die vor Dringlichkeit bebte. „Die Magie hier ist nicht nur noch vorhanden – sie wächst. Sie breitet sich aus.“
Kael wandte seinen Blick wieder der nächsten Leiche zu, derjenigen, die seinen Namen geflüstert hatte. Ihr Mund stand noch immer leicht offen, ihre Lippen waren zu einer grotesken Grimasse erstarrt, als hätte sie fast die letzte Silbe gebildet, aber nie die Gelegenheit dazu bekommen. Er konnte noch immer den Nachhall ihrer Stimme in seinem Hinterkopf hören, kalt und heimtückisch.
Aber es war nicht nur diese eine.
Eine widerliche Erkenntnis überkam ihn, als sein Blick zu den anderen wanderte – den Leichen, die auf den Steinplatten lagen. Sie begannen zu zucken.
Zuerst war es nur ganz leicht. Ein Finger krümmte sich, ein Fuß zuckte, ein Brustkorb hob sich leicht, als würden die Toten sich daran erinnern, wie man wieder atmet. Dann wurden die Zuckungen stärker. Gelenke knackten, als sich leblose Gliedmaßen in unnatürliche Winkel verdrehten. Ein Schauder lief durch die Leichen, ihre Köpfe hingen herab, ihre Münder öffneten sich zu lautlosen, atemlosen Atemzügen.
Dann kam das Geräusch.
Ein einzelner, rauer Atemzug zerriss die tote Luft.
Dann noch einer.
Und noch einer.
Kaels Puls pochte in seinen Ohren, als sich ein Dutzend Stimmen zu einem gebrochenen, disharmonischen Flüstern vermischten. Es war keine Sprache – nicht wirklich. Es klang eher wie ein Geräusch, das Gestalt angenommen hatte, etwas Uraltes und Kaltes, das gegen seinen Schädel drückte wie Finger, die durch seine Gedanken kratzten.
Es war sein Name.
Dutzende Stimmen, murmelnd, keuchend, zischend –
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„Kael … Kael … sieh … dich …“
Sein Atem stockte. Es waren nicht nur Stimmen. Es war eine Präsenz. Eine Schwere in der Luft, die sich auf ihn ausdehnte, unsichtbar, aber unverkennbar. Beobachtend.
Liora erstarrte. Seine übliche Gelassenheit war verschwunden und hatte etwas Scharfes, Kontrolliertes an sich. Seine Finger zuckten in der Nähe des Griffs seines Dolches, während sein Blick zwischen den Siegeln und den Leichen hin und her huschte und alles berechnend musterte.
Kael biss die Zähne zusammen und zwang sich, sich zu bewegen, den Instinkt, erstarren zu bleiben, zu unterdrücken. Er drehte sich zum Tunnel um – dem einzigen Ausgang. Seine Finger ballten sich zu Fäusten, als er mit der Schulter gegen die Steinplatte schlug, die sich verschoben hatte und ihnen den Weg versperrte.
Fest.
Sie gab nicht nach.
Eine Falle.
„Liora!“, bellte er mit angespannter, belegter Stimme. Sein Herz schlug gegen seine Rippen, als wollte es aus seiner Brust springen. Das Flüstern schwoll zu einem Crescendo an, der unnatürliche Chor verwickelte sich in seinem Kopf und bohrte sich tief in sein Inneres.
„Was auch immer du tust, mach es schneller!“
Liora fluchte leise und zeichnete mit wachsender Dringlichkeit die Symbole nach.
„Sie bilden etwas Neues“, murmelte er mit angespannter Stimme. „Nicht nur Kontrolle. Nicht nur Beschwörung.“ Seine Finger schwebten nur wenige Zentimeter über den Symbolen, als wolle er den Puls ihrer Magie spüren, ohne sie direkt zu berühren. Er kniff die Augen zusammen und musterte die ineinander verschlungenen Runen mit einer Art verzweifelter Präzision, bevor er einen Schritt zurücktrat und den Kopf neigte, als wolle er das Gesamtbild sehen.
Kael stockte der Atem. Er konnte es auch spüren – die Veränderung in der Luft, die Art, wie die Wände der Kammer vor Erwartung zu vibrieren schienen. Als er scharf ausatmete, machte sich eine schreckliche Erkenntnis in Lioras Gesicht breit.
„Sie erschaffen eine Tür.“
Kael hatte keine Zeit zu fragen, was das bedeuten sollte, bevor sich die erste Leiche bewegte.
Das war falsch.
Es taumelte nicht wie ein hirnloser Untoter. Es stöhnte nicht, schlurfte nicht und schleppte sich nicht mit steifen, ungeschickten Bewegungen vorwärts. Es bewegte sich einfach – fließend, geschmeidig, zielstrebig. Wie eine Marionette, deren Fäden gerade straff gezogen worden waren.
Dann verschwand es.
Kael hatte kaum Zeit, die verschwommene Bewegung zu registrieren, bevor eine krallenbewehrte Hand nach seiner Kehle schoss.
Instinktiv drehte er sich weg und warf sich gerade noch rechtzeitig zurück, um den greifenden Fingern auszuweichen. Das Ding – denn es war ganz sicher kein Mensch mehr – landete lautlos auf dem kalten Stein, auf dem er gerade noch gestanden hatte, und kauerte tief wie ein Raubtier, die Finger unnatürlich weit gespreizt. Sein Kopf zuckte, sein Hals war in einem Winkel gebogen, der ihn hätte brechen müssen, und seine zu großen, glasigen Augen glänzten mit etwas, das mehr als nur Tod war.
Es beobachtete ihn. Es studierte ihn.
Dann stürzte es sich erneut auf ihn.
Kael hob seinen Dolch in einem scharfen Bogen und schlug auf seine Rippen ein. Die Klinge traf ihr Ziel – aber statt Fleisch und Knochen zu durchschneiden, schnitt sie durch etwas, das sich bewegte.
Nicht wie Muskeln.
Nicht wie Sehnen.
Es war, als würde man in Rauch stechen. Ein dicker, zähflüssiger Nebel, der sich wellte und sich in dem Moment, als seine Klinge ihn durchdrang, wieder formte und nahtlos in eine feste Form zurückkehrte.
Das Ding zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Eine kalte Welle überrollte Kael wie eine physische Kraft. Das war keine wiederbelebte Leiche. Das war kein Soldat, der mit verbliebenen Reflexen von den Toten auferstanden war. Dieses Ding wusste, was es tat. Es war intelligent. Es war bei Bewusstsein.
Liora fluchte hinter ihm und bewegte sich blitzschnell. Seine Hand umklammerte Kaels Arm und riss ihn zurück, gerade als sich eine weitere Leiche langsam und bedächtig von den Steinplatten löste, ohne die steife Unbeholfenheit der Toten. Dann noch eine. Und noch eine.
Das Murmeln wurde lauter.
Es waren keine unzusammenhängenden Stöhnen. Keine bedeutungslosen Echos verlorener Leben.
Es war ein Chor.
Kaels Magen krampfte sich zusammen.
Sie flüsterten.
Es war nicht nur Lärm. Es waren Worte, Dutzende von Stimmen, die sich überlagerten und in einer unheimlichen, hypnotischen Harmonie miteinander verschmolzen. Er konnte nicht verstehen, was sie sagten – nicht ganz –, aber die Kadenz, der Rhythmus, rührten etwas in seinem Kopf an. Als würden Finger durch die Ränder seiner Gedanken gleiten.
Liora erstarrte neben ihm, sein übliches Grinsen war verschwunden. Er atmete kontrolliert, aber angespannt, seine Finger krallten sich um den Griff seines Dolches, als wollte er etwas abschütteln.
Kael biss die Zähne zusammen und zwang sich, sich zu konzentrieren, um die Stimmen zu blockieren, die in seinen Kopf krochen. Er veränderte seine Haltung, hielt den Dolch ruhig und atmete gleichmäßig.
Dann drehte eine der Leichen ihren Kopf zu ihm.
Es bewegte sich nicht wie ein Mensch, die Bewegung war langsam und bedächtig, als würde es den Moment genießen.
Sein Mund öffnete sich.
Und mit einer Stimme, die zu klar, zu vertraut, zu verdammt falsch war –
flüsterte es seinen Namen.
Kaels Puls setzte aus.
Dann kam eine weitere Stimme hinzu. Und noch eine.
Dutzende von ihnen. Sie flüsterten seinen Namen.
Seine Haut krabbelte.
Der Erste von ihnen trat vor, sein Körper zuckte unnatürlich.
Dann stürzte er sich auf ihn.
Kael hatte kaum Zeit zu reagieren, bevor er ihn gepackt hatte, seine Finger wie Stahl um sein Handgelenk, sein Griff eiskalt. Er stieß ihn hart zurück und wand sich aus seinem Griff, aber das Ding war schnell. Zu schnell.
Lioras Klinge blitzte auf.
Der Stahl traf die Kreatur am Hals – aber wieder gab es kein Blut, keinen Widerstand. Das Fleisch verformte sich einfach und die Wunde verschloss sich innerhalb von Sekunden wieder.
Liora stieß einen scharfen Atemstoß aus. „Das ist neu.“
Kael verschwendete keine Zeit mit einer Antwort. Er rammte seinem Stiefel hart in das Knie der Kreatur und brachte sie so lange aus dem Gleichgewicht, dass er sich befreien und etwas Abstand zwischen sie bringen konnte. Aber sie schien den Schlag kaum zu spüren.
Sie lächelte.
Ein zerklüfteter, hohler Ausdruck, der nicht menschlich war.
Das Flüstern wurde lauter, die Luft war dick von etwas Unsichtbarem, das drückte und sich ausdehnte –
Dann –
bewegte sich ein Schatten am anderen Ende der Kammer.
Zuerst dachte Kael, es sei eine weitere Leiche. Dann erkannte er, dass es etwas ganz anderes war.
Die Gestalt trat vor, ihre Präsenz verschlang die Luft in der Kammer wie ein letzter Atemzug.
Die flackernden Symbole an den Wänden pulsierten schneller, ihr Leuchten wurde intensiver, im Rhythmus der Symbole, die in die geschwärzte Rüstung der Gestalt eingraviert waren. Das Metall war uralt, vom Alter und etwas Tieferem verdunkelt – etwas, das sich falsch anfühlte. Entlang der Platten waren Runen eingraviert, die sich wie lebende Tinte unter der Oberfläche bewegten und jede einzelne pulsierte in unheimlicher Synchronisation mit den Symbolen, die sie umgaben.
Eine schwere Kapuze bedeckte seine Schultern und warf tiefe Schatten auf seine Gestalt, aber die Form seines Helms war unverkennbar – ein Raben-Schnabel, lang und scharf, der ihm ein grimmiges, vogelähnliches Gesicht verlieh. Seine Augen, falls er welche hatte, waren in der Leere seiner Maske verborgen, einem Abgrund aus blinder Dunkelheit, der dennoch das Gefühl vermittelte, dass er beobachtete, analysierte und entschied.
Die Temperatur im Raum sank rapide.
Es sprach nicht.
Es hob nur seine Gleve.
Die Waffe war riesig, fast so lang wie Kael selbst, die Klinge breit und mit Runeninschriften verziert. In dem Moment, als sie sich hob, erwachten die in den Stahl eingravierten Symbole zum Leben und strahlten ein unheilvolles, dunkelrotes Leuchten aus. Die Luft selbst zitterte um die Waffe herum, als würde sie vor der Kraft zurückschrecken, die in ihr steckte.
Kael hatte kaum Zeit, sich zu wappnen, bevor die Gestalt sich bewegte.
In einem Moment war sie noch eine Statue der Stille. Im nächsten war sie schon über ihnen.