Die Straße vor ihm schien endlos, die feuchten Pflastersteine glänzten unter dem dünnen Schleier aus Nebel, der hartnäckig in der Luft hing. Jeder Schritt fiel Kael schwerer als der letzte, das Chaos der vergangenen Nacht lastete wie ein Schatten auf seinen Schultern. Der schwache Geruch von verbranntem Holz vermischte sich mit dem erdigen Duft nasser Blätter und erinnerte ihn an das Feuer und die Zerstörung, die es hinterlassen hatte.
Kael zog den Riemen seines Rucksacks enger und seine Finger streiften den abgenutzten Ledergriff seines Dolches. Es war ein kleiner Trost – ein Halt in einer Welt, die sich immer instabiler anfühlte. Er warf einen Blick auf Liora, die mit einer mühelosen Anmut neben ihm herging, die im Widerspruch zu der Spannung stand, die zwischen ihnen herrschte.
Lioras Augen waren scharf und bewegten sich ständig, sie huschten zu den Schatten am Straßenrand.
Er bewegte sich wie ein Raubtier – nicht wie eines, das zum Sprung ansetzte, sondern wie eines, das darauf achtete, nicht überfallen zu werden. Die lässige Nonchalance, die er oft wie eine Rüstung trug, war noch da, aber jetzt dünner, als würde sie etwas Vorsichtigeres, Berechnenderes überdecken.
Die Stille zwischen ihnen wurde mit jedem Schritt bedrückender, bis Kael sie schließlich brach, seine Stimme leise, aber schneidend in der Stille. „Du bist ungewöhnlich still. Bedrückt dich etwas?“
Lioras Lippen verzogen sich zu einem schwachen Grinsen, aber es fehlte ihm seine übliche Schärfe. „Ich genieße nur die Aussicht“, sagte er leichthin. „Nichts sagt so sehr ‚Willkommen‘ wie eine Stadt, die versucht, ihre eigenen Geheimnisse zu vernichten.“
Kael seufzte und ließ seinen Blick wieder auf den Weg vor ihm schweifen. In der Ferne ragten die Umrisse der Ruinen von Halewick vor dem blassen, bewölkten Himmel auf.
Der Rauch des Feuers hatte sich verzogen, aber seine Erinnerung blieb in den verkohlten Überresten und dem schwachen, beißenden Geruch, der noch in der Luft hing. Doch es war nicht nur die Zerstörung, die an ihm nagte – es war die Gestalt, die er durch den Dunst gesehen hatte, die sie mit beunruhigender Regungslosigkeit beobachtet hatte. Dieses Bild blieb ihm scharf und beunruhigend im Gedächtnis.
„Du hast sie auch gesehen, oder?“ Kaels Stimme brach erneut die Stille, diesmal leiser.
Liora antwortete nicht sofort, sondern suchte mit gemächlichen Schritten den Straßenrand ab. Als er endlich sprach, klang seine Stimme leicht, aber mit einer subtilen Schärfe. „Wen gesehen?“
Kaels Frustration flackerte auf und kribbelte in seinem Nacken. Er blieb stehen, seine Stiefel scharrten über das Kopfsteinpflaster, als er sich zu Liora umdrehte. „Die Gestalten während des Feuers. Spiel nicht den Unschuldigen. Du hast sie gesehen.“
Liora hielt inne und drehte sich zu Kael um. Sein Gesichtsausdruck war wie immer unlesbar, aber seine scharfen, durchdringenden Augen verrieten etwas mehr – vielleicht Ärger oder Vorsicht. „Ich sehe viele Dinge, Kael. Einige davon sind sogar wichtig.“
Kael presste die Kiefer aufeinander und seine Stimme wurde härter. „Und das hier nicht?“
Liora lachte leise und sein Grinsen wurde breiter, als er sich etwas näher zu ihm beugte. „Es ist wichtig. Aber genauso wichtig ist es, lange genug zu überleben, um herauszufinden, warum.“ Seine Stimme war leise, aber sie hatte Gewicht, jedes Wort war wohlüberlegt.
Eine leichte Brise wehte um sie herum und trug das leise Rascheln der Blätter und das entfernte Geräusch von Wasser, das von den Baumwipfeln tropfte, herüber.
Kael spürte, wie sein Puls schneller wurde, Frust und Unbehagen wirbelten in seiner Brust. Er wollte Antworten, aber Liora hatte eine Art, sie ihm vorzuenthalten, eingehüllt in Sarkasmus und vagen Ausflüchten.
„Du bist unmöglich, weißt du das?“, murmelte Kael, wandte sich wieder dem Weg zu und setzte seinen Marsch fort.
Liora kicherte erneut, diesmal leiser, fast amüsiert. „Das habe ich schon oft gehört.“
Die Straße machte eine leichte Kurve, die Bäume rückten näher, als wolle der Wald selbst ihren Weg versperren. Die Luft war kühl und feucht und klebte wie eine zweite Haut an ihrer Haut. Kaels Gedanken rasten, er wälzte die Ereignisse der letzten Tage wie Steine in seiner Hand und suchte nach etwas, das zusammenpasste, nach etwas, das Sinn ergab.
Er warf Liora einen weiteren Blick zu. Der Mann bewegte sich geschmeidig, seine Schritte waren trotz des unebenen Geländes leicht, aber seine Schultern waren angespannt, was vorher nicht der Fall gewesen war. Sein scharfer Blick huschte zu jedem Schatten, jeder noch so kleinen Bewegung am Rande ihres Blickfelds.
„Du bist zu aufmerksam“, sagte Kael, seine Stimme war jetzt leiser, aber immer noch bestimmt. „Glaubst du, wir werden verfolgt?“
Liora antwortete nicht sofort, sondern neigte leicht den Kopf, während er die Baumgrenze musterte. Schließlich zuckte er mit den Schultern und sagte in beiläufigem Ton: „Sagen wir einfach, ich habe gelernt, meinen Instinkten zu vertrauen. Und meine Instinkte sagen mir, dass wir nicht ganz allein sind.“
Kael umklammerte den Riemen seines Rucksacks fester und seine Finger streiften erneut den Griff seines Dolches. Sein Blick huschte zu den Schatten, auf der Suche nach irgendetwas Ungewöhnlichem, aber alles, was er sah, waren die knorrigen Äste der Bäume und der schwache Nebel, der vom Boden aufstieg.
„Du erfüllst mich nicht gerade mit Zuversicht“, sagte Kael trocken und wandte seinen Blick wieder Liora zu.
Liora grinste, und ein Hauch seiner üblichen Arroganz kehrte zurück. „Gut. Zuversicht bringt Leute um.“
Die Stille zog sich erneut aus, jetzt noch bedrückender, die Luft zwischen ihnen war voller unausgesprochener Spannung. Kaels Gedanken kreisten um die Gestalt am Feuer, die sie regungslos beobachtet hatte, ohne zu reagieren, als würde sie auf etwas – oder jemanden – warten.
„Du denkst immer noch darüber nach, oder?“ Lioras Stimme durchbrach die Stille wie ein Messer, sein Tonfall war sanfter, aber nicht weniger direkt.
Kael warf ihm einen Blick zu und runzelte die Stirn. „Wie könnte ich das nicht? Wer oder was auch immer das war, es war nicht zufällig dort. Es hat uns beobachtet.“
Lioras Grinsen verschwand und machte einem ernsteren Ausdruck Platz. Er blieb stehen und drehte sich zu Kael um. „Und was glaubst du, wollten sie?“
Kael zögerte, die Frage hatte ihn überrascht. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und suchte verzweifelt nach einer Antwort, die ihm nicht einfiel.
Liora musterte ihn einen Moment lang mit unverwandtem Blick. „Genau. Du weißt es nicht. Und ich auch nicht.“ Er trat näher und senkte seine Stimme fast zu einem Flüstern. „Aber die Sache ist die, Kael: Wer auch immer sie sind, sie wissen, dass wir hier sind. Sie wissen, dass wir suchen. Und sie werden es uns nicht leicht machen.“
Kael schluckte schwer, Lioras Worte lagen ihm wie ein Stein auf der Brust. Er hasste die Ungewissheit, das Gefühl, einen Schritt hinterher zu sein, blind in eine Situation zu gehen, die er nicht ganz verstand. Aber Liora hatte recht – es gab keinen Raum für Zögern, keinen Spielraum für Fehler.
„Was machen wir dann?“, fragte Kael leise, seine Stimme war kaum über das Rascheln der Blätter zu hören.
Lioras Lippen verzogen sich zu einem schwachen, humorlosen Lächeln. „Wir fangen mit dem guten Kapitän und seiner fröhlichen Bande von Lügnern an. Um die Geister kümmern wir uns später.“
Damit drehte sich Liora um und ging weiter, seine Schritte schnell und entschlossen. Kael blieb einen Moment lang stehen, seine Gedanken wirbelten durcheinander, bevor er seufzte und ihm folgte. Das Gespräch hallte schwer und ungelöst in seinem Hinterkopf nach, während sich die Straße vor ihm in den nebligen Ferne verlief.
Kael biss die Zähne zusammen, folgte ihm aber, während das Gespräch unangenehm in seinem Hinterkopf nachhallte.
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Die Ruinen von Lord Alvanes Anwesen standen wie ein trostloses Denkmal der Verwüstung, ein Skelett seiner früheren Pracht.
Das einst stattliche Herrenhaus mit seinen hoch aufragenden Säulen und verzierten Fenstern war nun zu Asche und Schutt zerfallen. Verkohlte Balken ragten wie zerklüftete Rippen in den Himmel und hoben sich deutlich vom grauen Morgenlicht ab, das durch den Schleier aus Rauch drang. Der beißende Geruch von verbranntem Holz vermischte sich mit etwas weitaus Unheimlicherem, einem süßlichen, metallischen Geruch, der sich in Kaels Kehle festsetzte und nicht verschwinden wollte.
Stadtwachen bewegten sich vorsichtig durch die Trümmer, ihre Bewegungen waren methodisch, aber unsicher. Trotz ihrer Versuche, Autorität auszustrahlen, bemerkte Kael die subtilen Anzeichen von Angst in jeder ihrer Handlungen – die Art, wie sie die dunkelsten Ecken der Ruinen mieden, die hastigen Blicke, die sie austauschten, wenn sie glaubten, niemand würde sie beobachten. Sie waren eindeutig überfordert, ihre Tapferkeit war nur eine dünne Fassade, hinter der sich eine spürbare Angst verbarg.
Kaels Stiefel knirschten auf dem aschebedeckten Boden, als er sich dem Eingang näherte und seinen Blick über die Szene schweifen ließ. Die schwachen Spuren der in die Steine eingebrannten Siegel pulsierten noch immer leicht, Überreste einer dunklen Magie, die wie eine bösartige Präsenz an den Ruinen zu haften schien. Selbst jetzt, mitten in den Trümmern, konnte er es spüren – das anhaltende Summen von etwas Unnatürlichem, das an die Grenzen seiner Sinne drängte.
In der Nähe der Überreste des einst prächtigen Eingangs stand Marschall Greaves, eine Gestalt von strenger Disziplin und gebieterischer Präsenz. Seine breiten Schultern und seine makellose Uniform verliehen ihm eine autoritäre Ausstrahlung, aber Kael sah die Risse unter der Oberfläche. Greaves‘ Gesichtsausdruck war sorgfältig neutral, seine stahlgrauen Augen musterten die Szene mit der Präzision eines Mannes, der es gewohnt war, die Kontrolle zu behalten.
Dennoch hatte sein Verhalten etwas Beunruhigendes, eine kalte Distanziertheit, die darauf hindeutete, dass er nichts lieber tun würde, als den ganzen Vorfall unter den Teppich zu kehren.
„Abenteurer“, grüßte Greaves mit knapper, formeller Stimme. Er machte sich nicht die Mühe, Kael anzusehen, sondern richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf eine Gruppe von Wachen, die Trümmer wegschleppten. „Ihr habt eure Pflicht getan. Ihr braucht euch nicht weiter einzumischen.“
Kael reagierte gereizt auf diese Abweisung und ballte die Fäuste. „Nicht nötig?“, wiederholte er ungläubig. „Es sind Menschen gestorben. Das Feuer war kein Unfall, und das weißt du ganz genau.“
Greaves drehte sich endlich zu ihm um, sein Gesichtsausdruck hart und unnachgiebig. Sein Blick war wie gehärteter Stahl, kalt und unerbittlich. „Was ich weiß“, sagte er ruhig, „ist irrelevant. Die Angelegenheit ist abgeschlossen.“
Kael machte einen Schritt nach vorne, aber bevor er etwas sagen konnte, kam Liora ihm zuvor. Der Schurke grinste wie immer, aber diesmal mit einer gefährlichen Schärfe, die Kael selten an ihm sah. „Abgeschlossen?“, wiederholte Liora mit spöttischem Unterton. „Das hast du aber schön aufgeräumt, Marschall. Sag mal, enden alle deine Ermittlungen so bequem, oder ist das hier ein Sonderfall?“
Greaves presste die Kiefer aufeinander, die Muskeln zuckten sichtbar. „Du gehst zu weit.“
„Und du vertuschst etwas“, gab Liora zurück, seine Worte scharf wie Messer. „Nennen wir es doch beim Namen, oder? Du hast verschwundene Leichen, verdrehte Wachen und einen Adligen, der entweder zu viel oder zu wenig wusste. Aber klar, schreiben wir es einfach einem seltsamen Unfall und überaktiver Fantasie zu.
Das wird bestimmt gut halten.“
Kael warf Liora einen überraschten Blick zu, überrascht von dem Gift in seiner Stimme. Liora war selten so direkt, er wich lieber mit Humor oder Sarkasmus aus, aber heute war er unerbittlich, sein scharfer Blick bohrte sich wie eine Klinge in Greaves.
Greaves presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen, seine Fassung unerschütterlich. Er hob die Hand und gab seinen Männern ein Zeichen. „Sichert die Beweise“, befahl er knapp. „Entfernt die Leiche.“
Kael erstarrte. „Die Leiche …“