Die Straße nach Halewick erstreckte sich vor ihnen, glitschig vom Nebel, der an der feuchten Erde klebte. Der Wind trug den Geruch eines aufziehenden Sturms mit sich, schwer und dicht, der in den Lungen hängen blieb und die Luft geladen und erwartungsvoll machte. Kael zog den Riemen seines Rucksacks zurecht, wobei seine Finger über das abgenutzte Leder seiner Dolchscheide strichen. Das Gewicht der Waffe war beruhigend, aber das ungute Gefühl in seinem Bauch blieb.
Liora ging schweigend neben ihm her, ungewöhnlich angespannt. Seine scharfen Augen wanderten ununterbrochen zwischen den schattigen Baumreihen und den entfernten Gestalten auf der Straße vor ihnen hin und her. Er war nicht nur wachsam – er erwartete etwas. Das war nie ein gutes Zeichen.
„Du bist zu aufmerksam“, murmelte Kael mit leiser Stimme. „Rechnest du mit Ärger?“
Lioras Grinsen war verschwunden und hatte etwas Kälteres Platz gemacht.
„Zufälle gibt’s in diesem Geschäft nicht.“
Die Worte lagen schwer zwischen ihnen, schwerer als die feuchte Luft, die auf ihre Haut drückte. Kael atmete durch die Nase aus und rückte den Riemen seines Rucksacks zurecht, während er über eine flache Pfütze auf der Straße trat. Er hatte gefragt, ob das Muster der magischen Störungen wirklich zufällig sein könne, in der Hoffnung auf eine Beruhigung. Stattdessen hatte er die Bestätigung erhalten, dass sie direkt in etwas hineinliefen, das absichtlich inszeniert war.
Die Straße erstreckte sich weit vor ihnen und schlängelte sich durch einen Korridor aus skelettartigen Bäumen. In der Ferne braute sich ein Sturm zusammen, dicke Wolken zogen wie Tinte über den Himmel. Die Luft roch nach Regen und vermischte sich mit dem Geruch der feuchten Erde unter ihren Stiefeln. Der Wind rauschte durch die Äste, aber er reichte nicht aus, um die unheimliche Stille zu durchbrechen, die über der Landschaft lag. Selbst die üblichen Geräusche der Tierwelt waren verstummt, als würde die Natur selbst den Atem anhalten.
Liora bewegte sich mit seiner üblichen Anmut, aber Kael konnte den Unterschied sehen. Seine Bewegungen waren schärfer, sein Blick huschte zu oft zu den Bäumen, den Bergrücken und dem sich am Straßenrand wandelnden Nebel. Es war keine Paranoia – es war die Vorsicht von jemandem, der zu viele schlimme Dinge gesehen hatte, um an Glück zu glauben.
Die Stille zog sich hin, bis Kael es nicht mehr aushielt. „Glaubst du, das war schon immer der Plan?“, fragte er mit ruhiger Stimme. „Seyrik, die Minen, Briarhollow und jetzt Halewick – führt uns jemand in die Irre?“
Liora atmete leise aus, ohne wirklich zu seufzen. „Pläne sind eine komische Sache“, sagte er mit unleserlicher Stimme. „Man macht sie, man bricht sie. Aber diejenigen, die sich anpassen können, sind die Gewinner.“
Kael runzelte die Stirn. „Du glaubst also, wir laufen in eine Falle.“
Liora neigte leicht den Kopf. „Eine Falle setzt voraus, dass jemand darauf wartet, dass wir hineinfallen. Mit wem haben wir es zu tun?“ Er warf Kael einen Blick zu, in dem etwas Dunkles lag. „Fühlt sich eher wie ein Jagdgebiet an.“
Kael lief ein Schauer über den Rücken, aber er ließ sich nichts anmerken.
Sie gingen weiter, das Knirschen von Kies und nassen Blättern unter ihren Stiefeln war das einzige Geräusch.
Der Himmel verdunkelte sich weiter, der Sturm rückte näher, und das erste entfernte Donnergrollen hallte über die Hügel.
Dann, vor ihnen, eine Bewegung.
Eine Gruppe Reisender, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegte. Eine zerlumpte Bande – Familien, Händler, ein paar bewaffnete Männer, die sich nicht wie Soldaten verhielten, aber ihre Hände dicht an ihren Waffen hielten. Ihre Gesichter waren eingefallen, die Schultern gebeugt, Erschöpfung lastete auf ihren Schritten. Nicht nur die Art von Erschöpfung, die vom Reisen kam.
Es war die Art von Erschöpfung, die von Angst herrührte.
Als sie näher kamen, bemerkte Kael, wie einer der Männer die Hand seiner Tochter etwas fester umklammerte, seine Knöchel weiß vor Anspannung. Das Mädchen, nicht älter als zehn Jahre, klammerte sich an eine zerfetzte Decke und blickte mit großen Augen zu den Bäumen, als würde sie erwarten, dass etwas aus der Dunkelheit auftauchen würde.
Der Mann in mittleren Jahren an der Spitze hob warnend die Hand. „Kehrt um“, sagte er mit rauer Stimme, die von zu vielen schlaflosen Nächten zeugte. „In der Nähe von Halewick geht etwas Unnatürliches vor sich.“
Kael blieb stehen. „Was ist passiert?“
Der Mann schüttelte den Kopf und blickte über seine Schulter, als fürchte er sich vor dem, was ihnen folgen könnte. „Wir waren zum Handel in der Stadt.
Die Leute dort tun so, als wäre alles in Ordnung, aber das ist es nicht. Man spürt es in den Straßen. Die Art, wie die Wachen patrouillieren, als würden sie einen Angriff erwarten. Die Art, wie die Leute nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr rausgehen. Und dann …“ Er zögerte und sah seine Tochter an. „Dann begannen die Verschleppungen.“
Kael wurde mulmig zumute. „Verschleppungen?“
„Ein Händler. Zwei Diener. Der Sohn eines Adligen.“ Der Mann schluckte und rieb sich mit rauer Hand über das Gesicht. „Alle spurlos verschwunden. Keine Leichen, kein Blut. Einfach weg.“
Lioras Blick war unlesbar, aber Kael konnte die Berechnung hinter seinen Augen sehen. Die Reisenden hatten nicht gelogen – was auch immer in Halewick vor sich ging, war nicht nur Gerüchte.
Der Mann atmete aus und ließ die Schultern hängen. „Wir sind gegangen, bevor es noch schlimmer werden konnte. Vielleicht waren wir Feiglinge, aber ich werde meine Familie nicht riskieren.“
Kael konnte es ihm nicht verübeln.
Der Mann warf Liora einen Blick zu, als würde er die größere Gefahr in ihm spüren. „Ihr seid Abenteurer?“
Kael nickte.
Der Mann presste die Kiefer aufeinander. „Dann nehmt meinen Rat an und kehrt um.“
Kael sah Liora an, die nur mit den Schultern zuckte, ohne die Augen zu bewegen. Sie würden nicht umkehren.
Die Reisenden gingen weiter, ihre Schritte vermischten sich mit dem aufkommenden Wind, ihr Flüstern wurde vom entfernten Donnergrollen übertönt.
Kael atmete aus und zog den Riemen seines Rucksacks enger. „Na ja. Das ist beruhigend.“
Lioras Grinsen war leer. „Menschen rennen weg, wenn sie nicht sehen wollen, was auf sie zukommt.“
Sie gingen weiter, die Straße erstreckte sich endlos vor ihnen und schlängelte sich wie ein Weg, der zu etwas Unvermeidlichem führte, in Richtung Halewick.
Dann spürte Kael es.
Eine Präsenz.
Die ihn beobachtete. Mehr zum Lesen findest du in meiner virtuellen Bibliothek Empire.
Er versteifte sich leicht und schaute nach rechts – zu den knorrigen Ästen einer alten Eiche, deren verdrehte Äste sich wie Skelettfinger zum Himmel reckten. Dort saß ein einsamer Rabe, dessen Federn glatt und schwarz wie Tinte waren. Auf den ersten Blick sah er aus wie jeder andere Vogel, nur ein weiterer Schatten in der hereinbrechenden Dämmerung.
Doch dann bewegte er sich.
Er neigte den Kopf, beobachtete und wartete. Und seine Augen –
Sie flackerten.
Nicht durch reflektiertes Licht.
Nicht durch das blasse Leuchten des sturmvollen Himmels.
Sondern durch etwas Unnatürliches. Etwas, das Kael schon einmal gesehen hatte.
Briarhollow.
Die Siegel. Die Kreaturen.
Sein Atem stockte.
Der Rabe blinzelte.
Und dann war er weg.
Kein Flügelschlag. Kein Rascheln von Federn. Keine Bewegung.
Nur leere Luft, wo er gerade noch gewesen war.
Kaels Finger zuckten an seiner Seite und krümmten sich leicht. Seine Kehle war trocken, sein Puls unregelmäßig.
Einen Moment lang überlegte er, Liora davon zu erzählen. Auf den Ast zu zeigen, auf die leere Luft, auf das Gewicht von etwas Unsichtbarem, das gegen die Grenzen seiner Wahrnehmung drückte.
Aber dann hielt er inne.
Er sagte Liora nichts davon.
____
Halewick war nicht mehr die blühende Stadt, als die sie einst gerühmt worden war. In dem Moment, als sie durch die Tore kamen, spürte Kael es – eine Spannung, die in der Luft lag wie der Geruch von Regen vor einem Sturm. Die Straßen waren belebt, aber nicht so, wie es eine Stadt sein sollte.
Die Bewegungen waren zu kontrolliert, zu gezwungen, als würden alle Menschen, die über das Kopfsteinpflaster gingen, eine einstudierte Rolle spielen. Die Händler verkauften ihre Waren und riefen mit routinierten Stimmen, aber ihren Worten fehlte die Überzeugungskraft. Ihre Hände bewegten sich gewohnheitsmäßig, aber ihre Augen huschten über ihre Schultern, beobachteten, warteten.
Eine Stadt, die ihre eigenen Schatten fürchtete.
Wachen patrouillierten zu zweit, ihre Uniformen waren makellos, aber ihre Bewegungen waren steif vor Vorsicht. Ihre Hände ruhten auf den Griffen ihrer Waffen, ihre Augen suchten jede Gasse, jede sich bewegende Gestalt ab. Es war nicht die Anwesenheit des Gesetzes, die die Menschen misstrauisch machte – es war das Wissen, dass das Gesetz allein sie nicht schützen würde.
„Dieser Ort stinkt nach schlechten Erinnerungen“, murmelte Liora.
Kael nickte und ließ seinen Blick zum Rand des Marktes schweifen. Dort zog eine Frau ihr Kind aus einer Gasse, wobei sie es so fest packte, dass der Junge zusammenzuckte. Sie schaute nicht zurück, hielt nicht inne, sondern beschleunigte nur ihre Schritte, als würde schon der Blick in die dunkle Gasse etwas herauslocken.
Es war nicht nur Angst.
Es war Vorahnung.
Kael konnte es an der Art sehen, wie sich die Leute bewegten, wie sie sich in der Mitte der Straßen hielten, weg von den Schatten, die wie etwas Lebendiges an den Gebäuden klebten. Es war die Art, wie die Stimmen leiser wurden, wenn von der Nacht die Rede war, wie die Ladenbesitzer ihr Geld zweimal zählten, als wollten sie sichergehen, dass alles in Ordnung war, bevor die Sonne zu tief stand.
Etwas hatte hier eine Narbe hinterlassen. Und die Wunde war nie ganz verheilt.
Sie gingen weiter in Richtung Lord Alvanes Anwesen und folgten der gewundenen Hauptstraße, die von hohen Gebäuden gesäumt war, die das Gewicht der Zeit und der Vernachlässigung trugen. Einige Gebäude standen stolz da, ihre Fassaden gut gepflegt, aber andere hingen nach innen, ihre Dächer hingen wie müde Schultern herab. Mehr als einmal erblickte Kael mit Brettern vernagelte Fenster, Häuser, die verlassen, aber noch nicht vergessen waren.
Das Anwesen ragte am Rande des Adelsviertels empor, seine hohen Mauern makellos, doch ohne wirkliches Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Die Wachen am Eingang standen stramm, ihre Rüstungen poliert, aber abgenutzt, ihre Mienen unlesbar.
Das waren keine gewöhnlichen Männer. Das waren Soldaten, ausgebildet und kampferprobt. Und doch hatten ihre Augen denselben gequälten Ausdruck wie die der übrigen Stadtbewohner.
Einer von ihnen trat vor und versperrte ihnen den Weg. „Was führt euch hierher?“
„Die Gilde hat uns geschickt“, sagte Kael und holte den versiegelten Brief hervor.
Der Wachmann zögerte, nickte dann aber einem anderen zu, der durch das Tor verschwand. Sie mussten schweigend warten, die Luft zwischen ihnen war angespannt. Kael musterte die Männer – kampfbereit, professionell, aber übermüdet. Sie bewachten nicht nur das Haus eines Adligen. Sie bereiteten sich auf etwas vor.
Kurz darauf schwang das Tor auf.
„Der Herr wird euch empfangen.“