Amberine holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben. Ihre Finger zitterten leicht, als sie in ihre Robentasche griff und das Rascheln von Papier auf ihrer Haut spürte. Sie fummelte einen Moment herum, bevor sie ein gefaltetes Stück Pergament herauszog, das von der langen Zeit in ihrer Tasche etwas abgenutzt war. Sie starrte es einen Moment lang an, und die Erinnerung daran, wie sie es zusammen mit ihrem Ausweis erhalten hatte, blitzte in ihrem Kopf auf.
Damals war sie zu beschäftigt gewesen, um es zu lesen, zu sehr in die Aufregung und Nervosität des Symposiums vertieft. Jetzt kam es ihr wie ihre einzige Hoffnung vor.
Mit einem Schluck Wasser über die Lippen faltete sie das Papier auf und ließ ihren Blick über die sorgfältig geschriebenen Zeilen gleiten. Es enthielt Regeln und Richtlinien für das Verhalten in den Hallen von Aetherion. Amberines Herz sank, als sie sie las, und jedes Wort erfüllte sie mit wachsender Angst.
Regel 1:
Betritt keine mit roten Runen markierten Bereiche, da es sich um Sperrzonen oder gefährliche Räume handelt.
Regel 2:
Während der Stunden des „Schleiers“ (zwischen dem zweiten und dritten Mondaufgang, also zwischen 18:00 und 01:00 Uhr) ist jegliche Bewegung strengstens verboten. Während dieser Zeit müssen sich alle Personen in ihren zugewiesenen Gemächern aufhalten, um Begegnungen mit umherstreifenden Geistern oder magischen Wesen zu vermeiden.
Regel 3:
Meide abgelegene Bereiche, vor allem solche, in denen keine Wachen oder Verwaltungsmagier zu sehen sind.
Regel 4:
In bestimmten Teilen der Festung gibt es Spuren von „Ewigen Geistern“. Diese Bereiche dürfen nur von autorisiertem Personal und nur zu bestimmten Zeiten betreten werden.
Regel 5:
Wenn du die Anwesenheit von Geistern spürst, greife sie nicht an und verlasse sofort den Bereich.
Ein Schauer lief Amberine über den Rücken und sie schluckte schwer. Jede Regel schien unheilvoller als die vorherige und zeichnete ein Bild von Aetherion, das nicht nur eine Festung war, sondern ein Labyrinth voller Gefahren, in dem lauernde Bedrohungen in den Schatten lauerten. Sie faltete das Pergament wieder zusammen, ihre Finger fühlten sich taub an, als sie es zurück in ihre Tasche steckte. Die Luft um sie herum fühlte sich dichter und schwerer an, als würden die Wände sie beobachten.
Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte, die Angst zu verdrängen, die ihr die Kehle zuschnürte. Sie musste klar denken. Panik würde ihr hier nicht helfen.
Ignis‘ Stimme durchbrach die Stille, seine Flamme flackerte unruhig unter ihrer Robe. „Amberine, ich muss dir sagen … mit diesem Ort stimmt etwas nicht“, sagte er, ohne seinen üblichen Sarkasmus, der durch eine gewisse Anspannung ersetzt worden war.
„Seit wir hier sind, fühle ich mich … seltsam. Meine Kraft schwindet, Stück für Stück, als würde etwas mich aussaugen. Es ist nicht nur die Magie hier – es ist etwas anderes. Es ist dicht, voller Geister – und nicht irgendwelche Geister – ich glaube, es sind die Geister der Toten.“
Amberines Puls schlug schneller, ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als sie vorsichtig den schwach beleuchteten Gang entlangging. Die Luft war stickig, fast erstickend, und jeder Schatten schien sich ihr entgegenzustrecken und ihr Geheimnisse zuzuflüstern, die sie nicht hören konnte. „Hör auf, Ignis“, flüsterte sie mit leicht zitternder Stimme. „Du willst mir nur Angst machen.“
Ignis‘ Flammen flackerten und wurden kurz schwächer. „Ich meine es ernst, Amberine. Wir müssen hier weg, und zwar schnell. Dieser Ort ist unheimlich.“
Amberine biss sich auf die Lippe und schaute nervös umher, auf der Suche nach einem Fluchtweg. Sie holte tief Luft und versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken. „Wir schaffen das schon“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Ignis. „Wir müssen einfach weitergehen.“
Der Gang zog sich weiter hin, bog sich und drehte sich, die Wände wurden immer schmaler, als wollten sie sich um sie schließen.
Ihre Schritte hallten wider, das einzige Geräusch in der unheimlichen Stille. Sie erreichte das Ende des schmalen Ganges und bog nach links ab. In diesem Moment gab der Boden unter ihr nach. Amberine stieß einen erschrockenen Schrei aus, ihr Körper stürzte in die Dunkelheit. Die Luft rauschte an ihr vorbei, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und für einen schrecklichen Moment war sie schwerelos, die Welt drehte sich um sie herum.
Dann landete sie mit einem dumpfen Aufprall. Schmerz schoss durch ihre Beine, aber es war nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Sie stöhnte, stützte sich auf Hände und Knie und sah, wie die Welt um sie herum für einen Moment wirbelte, bevor sie wieder klarer wurde. Sie blinzelte und sah sich verwirrt um. Sie war nicht mehr in dem Gang. Stattdessen befand sie sich in etwas, das wie ein alter Marktplatz aussah.
Der Bereich war in ein schwaches, flackerndes Licht getaucht, Laternen hingen an krummen Stangen und warfen lange, tanzende Schatten auf den Boden. Der Marktplatz war voller Stände, jeder mit seltsamen Gegenständen bedeckt – Früchte, die sie noch nie gesehen hatte, Artefakte, die schwach leuchteten, bunte Kleidungsstücke, die im schwachen Licht schimmerten. Die Architektur war fremd, alt, die Steine abgenutzt und rissig, als hätte dieser Ort seit Jahrhunderten unberührt existiert.
Es herrschte eine beunruhigende Stille, als hätte die Welt hier das Konzept der Zeit vergessen.
Amberine wischte sich den Staub von ihrer Robe und sah sich mit großen Augen um. Trotz der Unheimlichkeit des Ortes konnte sie ein Gefühl der Neugier nicht unterdrücken. Sie war auf ein Stück Geschichte gestoßen – einen Ort, der in der Zeit verloren gegangen war und unter der Festung von Aetherion verborgen lag.
Das Unbehagen, das sie noch vor wenigen Augenblicken erfasst hatte, ließ nach und wurde von einer Faszination abgelöst, die sie zu den Ständen zog.
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Sie schlenderte über den Marktplatz und ließ ihren Blick von einem seltsamen Gegenstand zum nächsten wandern. Sie kam an einem Stand vorbei, der mit kleinen, leuchtenden Kristallen gefüllt war, von denen jeder in einer anderen Farbe pulsierte.
An einem anderen Stand gab es aufwendig geschnitzte Figuren, deren Augen ihr zu folgen schienen, als sie vorbeiging. Sie blieb vor einem Stand mit Lebensmitteln stehen – Gebäck, dessen goldene Kruste im Licht der Laternen glänzte und dessen Duft ihren Magen knurren ließ. Amberine trat näher, ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte seit der großen Zeremonie nichts mehr gegessen, und das Gebäck sah himmlisch aus.
Sie griff in ihre Tasche und holte ein paar Münzen heraus.
Der Verkäufer, eine gebeugte Gestalt mit faltigem Gesicht, musterte sie neugierig. Er sprach mit leiser Stimme, die Worte waren ihr unbekannt. Amberine runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen. Die Sprache war seltsam, der Akzent stark, als stamme er aus einer anderen Zeit. Sie hielt ihm die Münzen hin, in der Hoffnung, dass sie reichen würden, aber der Verkäufer schüttelte den Kopf und seine Augen weiteten sich leicht. Er murmelte etwas, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu nehmen.
Amberines Stirn runzelte sich noch tiefer, Verwirrung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. „Wer bist du?“, fragte sie zögernd. Die Augen des Verkäufers weiteten sich noch mehr, und er murmelte etwas vor sich hin. Langsam drehten sich die anderen auf dem Marktplatz zu ihr um, ihre Gesichter ausdruckslos, ihre Augen leer. Sie flüsterten untereinander, ihre Stimmen wurden lauter, hallten von den Steinmauern wider und erfüllten die Luft mit einem unheimlichen Gesang.
Einer von ihnen zeigte schließlich auf sie und seine Stimme übertönte die anderen. „Sie ist eine Lebende! Eine Lebende!“
Amberines Blut gefror, ihr Herz setzte einen Schlag aus, als ihr die Erkenntnis dämmerte. Die Menschen um sie herum – sie waren nicht lebendig. Panik überkam sie, ihr Puls pochte in ihren Ohren, während das Flüstern lauter wurde und die Gestalten näher kamen.
Ihre Augen waren leer und leuchteten schwach, ihre Bewegungen waren ruckartig und unnatürlich.
Amberine drehte sich um und ihre Füße bewegten sich, bevor ihr Verstand nachkam. Sie rannte, ihr Atem ging stoßweise, ihr Herz pochte, während sie zwischen den Ständen hin und her schlängelte. Der Marktplatz verdrehte sich um sie herum, die Ausgänge verschoben sich, bewegten sich und sperrten sie ein. Die Gestalten folgten ihr, ihre leeren Augen auf sie gerichtet, ihre Bewegungen wurden unberechenbarer, entschlossener.
„Lauf!“, schrie Ignis mit dringlicher Stimme, während seine Flammen wild flackerten. „Nicht stehen bleiben, Amberine!“
Amberines Füße schlugen auf das Kopfsteinpflaster, ihre Augen suchten verzweifelt nach einem Fluchtweg. Die Welt schien sich um sie herum zu verzerren, die Stände verschoben sich, die Gassen wurden enger und gewundener. Das Flüstern wurde lauter, der Gesang hallte in ihren Ohren: „Lebendig, lebendig, lebendig …“
Am anderen Ende des Marktplatzes entdeckte sie ein Herrenhaus, dessen hohe, dunkle Silhouette sich gegen das schwache Licht abzeichnete. Ignis‘ Stimme hallte: „Da! Das Herrenhaus – los!“
Amberine zögerte nicht. Sie rannte los in Richtung Villa, die Luft brennend in ihrer Lunge, ihre Muskeln schrien vor Schmerz. Sie erreichte die schwere Holztür, riss sie auf und stolperte hinein. Sie schlug die Tür hinter sich zu, ihre Brust hob und senkte sich heftig, ihr Herz pochte so laut, dass sie kaum etwas anderes hören konnte. Sie lehnte sich gegen die Tür, die Augen weit aufgerissen, der Körper zitternd.
Das Hämmern von Fäusten gegen die Tür hallte durch die dunkle Villa, die unmenschlichen Schreie der Gestalten draußen wurden lauter. Amberine stieß sich von der Tür ab und ließ ihren Blick durch den schummrigen Innenraum schweifen. Sie musste ein Versteck finden – irgendwo, wo sie sie nicht erreichen konnten.
Sie stolperte durch die Villa, ihre Füße trugen sie eine große Treppe hinauf, ihre Hände streiften das Geländer. Die Luft war dick und schwer, die bedrückende Energie lastete auf ihren Schultern. Sie erreichte die oberste Stufe der Treppe und erblickte einen Raum am anderen Ende des Flurs. Sie eilte darauf zu, keuchend und außer Atem, ihre Sicht verschwamm vor Erschöpfung.
Sie stieß die Tür auf und ihre Augen weiteten sich, als sie einen großen Kamin an der gegenüberliegenden Wand entdeckte. Die Flammen darin brannten in einem seltsamen Grün und warfen unheimliche Schatten durch den Raum. Das Klopfen von unten wurde lauter, die Tür splitterte unter der Wucht der Angriffe der Gespenster.
Amberine schloss die Augen, ihr Herz pochte in ihren Ohren.
Sie hatte keine Wahl.
Sie musste das Risiko eingehen.
Sie ging zum Kamin, ihr Körper zitterte, ihre Augen waren fest geschlossen.
Sie flüsterte ein verzweifeltes Gebet, ihre Stimme war kaum zu hören. „Bitte …“
Sie holte tief Luft und sprang in die Flammen.
Sofort überkam sie das Gefühl, teleportiert zu werden – ein ziehendes, dreht sich um die eigene Achse Gefühl, das ihren Magen umdrehen ließ. Die Welt um sie herum verschwamm, die Farben vermischten sich, ihre Sicht wurde für einen Moment schwarz, bevor sich die Welt erneut veränderte.
Sie stolperte beim Landen, ihre Knie gaben nach und ihre Hände schlugen auf den kalten Steinboden.
Amberine blinzelte und ihre Sicht klärte sich langsam. Sie befand sich in einer großen Halle mit einer hohen Decke und Wänden, die mit aufwendigen Schnitzereien verziert waren. Nach dem Chaos auf dem Marktplatz war die Stille fast ohrenbetäubend, und das plötzliche Schweigen ließ ihre Ohren klingeln. Sie rappelte sich auf, ihr Körper zitterte und sie atmete stoßweise.
Sie drehte sich um und sah sie – die Gestalten vom Marktplatz. Sie waren keine Menschen mehr. Ihre Gestalt hatte sich verändert, war verzerrt, ihre hohlen Augen leuchteten unnatürlich. Sie waren jetzt Gespenster, ihre Körper schwebten knapp hinter der Schwelle des Teleportationsportals und starrten sie an.
Amberine stockte der Atem, ihr Herz pochte, als Angst sie packte. Sie machte einen Schritt zurück, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, die Worte kamen ihr ohne nachzudenken über die Lippen. „Oh Götter, bitte …“