Sharon öffnete die Augen und sah das sanfte Licht der Morgendämmerung in ihrem schlichten, aber gemütlichen Zimmer. An der Decke waren alte Weinreben und Blätter in einem komplizierten Muster geschnitzt, das von der Familie Blackthorn weitergegeben wurde. Sie blinzelte den letzten Schlaf aus den Augen und sah sich im Zimmer um.
Der Raum war eine Mischung aus ihrer militärischen Disziplin und ihrem adeligen Erbe: In der Ecke stand eine Rüstung, bereit zum Tragen; in den Regalen standen ordentlich Bücher über Geschichte und Strategie sowie ein paar romantische Geschichten, für die sie eine Schwäche hatte, die sie aber hinter den anderen versteckt hielt. An der Wand hing stolz ein Langschwert, dessen Griff im Morgenlicht glänzte. Alles war an seinem Platz – ordentlich, zweckmäßig, so wie sie es mochte.
Sharon streckte sich, ging zum Fenster, zog die schweren Vorhänge zurück und ließ die frische Morgenluft herein. Der Himmel war mit rosa und orangefarbenen Streifen überzogen, und die ersten Sonnenstrahlen tauchten gerade über dem Horizont auf. Sie lehnte sich gegen den Fensterrahmen und ihre Gedanken schweiften, wie so oft am Morgen, zu Lady Sophie von Icevern.
Sophie. Ihre Herrin. Die einst strahlende Sprosse der Familie Icevern. Das Bild von Sophie, wie sie aufrecht in ihrer makellosen Rüstung stand, ihr silbernes Haar im Sonnenlicht glänzend, während sie mit einer Entschlossenheit und Freundlichkeit sprach, die alle um sie herum inspirierte, erfüllte Sharons Gedanken. Lady Sophie war alles, was Sharon bewunderte: mutig, ehrenhaft, mitfühlend.
Sie hatte immer geglaubt, dass Sophie zu Großem bestimmt war, dass ihr unerschütterlicher Gerechtigkeitssinn sie über die kleinlichen Intrigen des Adels erheben würde. Aber dieser Traum begann zu zerbrechen, als sie ihre Verlobung mit Draven löste.
Sharons Augenbrauen zogen sich zusammen, ihre Zähne pressten sich leicht aufeinander, als sie daran dachte. Draven. Der abscheuliche, manipulative Oberhaupt der Familie Drakhan.
Selbst jetzt noch, wenn sie nur an seinen Namen dachte, bekam sie einen bitteren Geschmack im Mund. Sie wusste – jeder wusste –, wie skrupellos er war. Kalt, berechnend, ein Mann, der Menschen wie Schachfiguren hin und her schob. Er hatte nie auch nur einen Funken Menschlichkeit gezeigt, nie eine einzige Geste der Freundlichkeit ohne Hintergedanken gemacht. Der Gedanke, dass jemand wie er mit ihrer Herrin verlobt gewesen war, brachte Sharons Blut zum Kochen.
Seit Draven die Verlobung aufgelöst hatte, ging es nur noch bergab. Ihr Ruf hatte gelitten. Sie wurde ausgegrenzt, verspottet, sogar innerhalb der Königlichen Ritter von Regaria. Sharon hatte es mit eigenen Augen gesehen – das Getuschel hinter Sophies Rücken, die Art, wie selbst ihre Mitritter sie ansahen, als wäre sie ihres Titels nicht mehr würdig.
Sie sahen die aufgelöste Verlobung als Zeichen von Schwäche, als ob Sophies Wert an ihre Verbindung zu Draven gebunden gewesen wäre. Aber Lady Sophie blieb stark. Sie hielt den Kopf hoch und diente dem Königreich weiterhin von ganzem Herzen. Sharon bewunderte ihre Widerstandsfähigkeit, aber sie sah auch, wie sehr sie das belastete. Sie sah den Schmerz in Sophies Augen, dass ihr Lächeln nicht mehr bis zu den Augen reichte.
Sharons Hände umklammerten den Fensterrahmen, ihr Herz schmerzte für ihre Herrin. Sie wollte nichts lieber, als sie zu beschützen, sie vor all dem Schmerz und der Ungerechtigkeit zu bewahren. Lady Sophie hatte so viel mehr verdient. Sie verdiente es, gefeiert zu werden, nicht gemieden. Sie verdiente Loyalität, Respekt – alles, was dieser abscheuliche Draven ihr genommen hatte.
Ein lautes Klopfen an der Tür riss Sharon aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um, nahm sich einen Moment Zeit, um ihre Wut zu unterdrücken, bevor sie rief: „Herein.“
Eine Magd trat ein, verbeugte sich leicht und sagte: „Guten Morgen, Miss Sharon. Ihr Frühstück steht im Speisesaal bereit.“
Sharon nickte zustimmend, ihr Gesicht wurde weicher, als sie die Magd anlächelte. „Danke. Ich komme gleich herunter.“
Die Zofe verbeugte sich erneut und ging, wobei sie die Tür leise hinter sich schloss. Sharon atmete tief durch und ließ ihren Blick noch einen Moment lang auf den Himmel draußen ruhen, bevor sie sich abwandte. Sie durfte sich heute nicht von ihren Gefühlen überwältigen lassen. Sie hatte Pflichten zu erfüllen, sowohl als Ritterin als auch als Adjutantin von Lady Sophie.
Mit neuer Entschlossenheit ging Sharon zu ihrem Rüstungsständer und zog sorgfältig ihre Uniform an – das tiefe Grün der Familie Blackthorn, akzentuiert mit Silber, um ihren Rang zu kennzeichnen. Ihre Bewegungen waren geübt, jedes Teil ihrer Uniform passte perfekt. Sie hielt einen Moment inne und strich mit den Fingern über das Emblem auf ihrer Brust – das Wappen der Blackthorns. Es erinnerte sie an ihre Pflicht, ihre Loyalität. Nicht nur gegenüber ihrer Familie, sondern auch gegenüber Lady Sophie.
Als sie zum Speisesaal ging, wanderten Sharons Gedanken zurück zu den neuesten Nachrichten, die sie in der Zauberzeitung gelesen hatte. Es gab Artikel – so viele Artikel – über Draven. Über seine Mentorenschaft für Königin Aurelia, über seine Vorträge im Zauberturm, darüber, dass er einer der Hauptredner beim bevorstehenden Kontinentalen Magiersymposium sein würde. Es drehte sich ihr der Magen um.
Sie konnte sich noch gut an den kalten, rücksichtslosen Mann erinnern, der neben Lady Sophie gestanden hatte, wie er die Leute angesehen hatte, als wären sie weniger wert als er. Und jetzt wurde er gefeiert? Das machte sie wütend. Wie konnten die Leute ihn nicht durchschauen? Wie konnten sie so blind für die Wahrheit sein?
Sharon biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, während sie weiterging.
Draven war schon immer manipulativ gewesen und hatte immer einen Weg gefunden, um zu bekommen, was er wollte. Er hatte sich nie um andere gekümmert, nur um sich selbst. Und jetzt stand er hier und wurde gefeiert, als wäre er irgendein Held. Das war nicht richtig. Das war nicht fair. Lady Sophie hatte so viel geopfert, alles für das Königreich gegeben, und jetzt musste sie leiden, während Draven im Ruhm badete.
Sharons Schritte hallten durch den Flur, als sie sich dem Esszimmer näherte, ihre Gedanken immer noch von ihrer Frustration eingenommen. Sie konnte nicht verstehen, wie jemand wie Draven so viel Anerkennung bekommen konnte, wie man ihn als etwas anderes sehen konnte als den kalten, intriganten Mann, der er wirklich war. Sie erinnerte sich an die Gerüchte, das Geflüster darüber, wie er sich an die Macht gemogelt hatte, wie er Menschen benutzt hatte, um seine Ziele zu erreichen.
Er war kein Held. Er war ein Bösewicht, und sie würde ihm nie verzeihen, was er Lady Sophie angetan hatte.
Sharon öffnete die Tür zum Esszimmer, atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie durfte sich nicht von ihrer Wut überwältigen lassen. Sie musste konzentriert bleiben, um Lady Sophies willen. Im Esszimmer war es still, der Tisch war ordentlich gedeckt mit einem einfachen Frühstück – Brot, Käse und einer kleinen Kanne Tee.
Sharon setzte sich und nickte der Magd zu, die an der Tür stand. Sie nahm ein Stück Brot und biss ab, während ihre Gedanken noch kreisten.
Als sie halb gegessen hatte, kam ein Diener herein, verbeugte sich respektvoll und näherte sich ihr. „Miss Sharon, es ist ein Brief für Sie gekommen. Er trägt das Siegel des Haupthauses Blackthorn.“
Sharons Augen weiteten sich leicht, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das Haupthaus? Briefe von dort waren selten und wurden nie ohne Grund geschickt. Sie nahm den Brief vom Diener entgegen, ihre Finger strichen über das Wachssiegel – das Blackthorn-Wappen, eingeprägt in tiefgrünes Wachs. Sie wusste sofort, dass dies wichtig war. Sharon nickte dem Diener zu, ihre Stimme klang trotz ihrer Vorfreude ruhig. „Danke. Das wäre alles.“
Der Diener verbeugte sich und ging, sodass Sharon mit dem Brief allein blieb. Sie legte ihre Gabel beiseite, ihr Frühstück vergessen, als sie von ihrem Platz aufstand. Dies war nichts, was man in der Öffentlichkeit lesen konnte. Sie brauchte Privatsphäre. Mit entschlossenen Schritten ging sie zurück in ihr Zimmer, ihr Herz pochte in ihrer Brust. Sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, worum es ging – was konnte so dringend sein, dass das Haupthaus einen Brief direkt an sie schickte?
In ihrem Zimmer angekommen, schloss Sharon die Tür hinter sich und starrte auf den Brief in ihren Händen. Sie ging zu ihrem Schreibtisch, setzte sich und brach vorsichtig das Wachssiegel. Das Pergament war dick, die Tinte dunkel und kräftig auf dem cremefarbenen Papier. Sie holte tief Luft, bevor sie den Brief öffnete, und ließ ihren Blick über die elegante Schrift gleiten.
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An Sharon vom Zweig der Schwarzdornbäume,
wir hoffen, dass dieser Brief dich wohlauf erreicht. Die Familie Blackthorn ist seit jeher stolz auf ihre Loyalität und ihr Engagement für die Interessen des Königreichs. In diesem Sinne schreiben wir dir heute mit einer Angelegenheit von höchster Wichtigkeit.
Die jüngsten Entwicklungen innerhalb des Kontinentalen Magierrats geben Anlass zur Sorge.
Es gibt Hinweise darauf, dass Draven aus der Familie Drakhan plant, einer gefährlichen Organisation – dem Teufelssarg – zu erlauben, in die Unterwasserfestung Aetherion einzudringen. Wie du sicher weißt, ist der Teufelssarg eine Gruppe, die wegen ihrer dunklen Magie und ihrer Geschichte politischer Intrigen gefürchtet ist. Ihre Anwesenheit in Aetherion würde eine unvorstellbare Bedrohung für die Sicherheit der arkanen Künste und die Stabilität unseres Reiches darstellen.
Der Magierrat hat eine Versammlung in Aetherion einberufen, an der auch Draven teilnehmen wird. Deine Aufgabe, Sharon, ist es, dafür zu sorgen, dass er sein Vorhaben nicht umsetzen kann. Sollte sich herausstellen, dass er eine direkte Bedrohung darstellt, bist du befugt, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen – einschließlich seiner Ermordung. Diesen Befehl geben wir nicht leichtfertig, aber die Sicherheit des Königreichs und das Gleichgewicht der Kräfte müssen gewahrt bleiben.
Du bist bei diesem Vorhaben nicht allein. Es gibt andere, die unsere Bedenken teilen und die dir zur Seite stehen werden, wenn die Zeit gekommen ist. Vertraue auf deine Ausbildung, auf deine Loyalität gegenüber der Familie Blackthorn und auf deine Pflicht gegenüber dem Königreich.
Mögen die Schatten dich leiten,
Der stellvertretende Anführer der Familie Blackthorn
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Sharons Augen verengten sich, als sie den Brief las, und ihr Griff um das Pergament wurde fester. Der Teufelssarg – schon allein der Name ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Sie waren gefährlich, skrupellos, und wenn Draven wirklich vorhatte, sie nach Aetherion zu lassen, dann war er eine noch größere Bedrohung, als sie gedacht hatte.
Die Last des Befehls lastete schwer auf ihrer Brust – ein Attentat, sanktioniert von ihrer Familie. Die Vorstellung, jemanden zu töten, selbst Draven, war nichts, was sie auf die leichte Schulter nahm. Aber wenn er eine Bedrohung für Lady Sophie, für das Königreich war … dann würde sie tun, was getan werden musste.
Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in ihre Tunika. Ihre Gedanken rasten, ihre Gefühle waren eine Mischung aus Wut, Entschlossenheit und einem Hauch von Angst.
Draven war gefährlich, das wusste sie. Er war intelligent, immer einen Schritt voraus, und wenn sie Erfolg haben wollte, musste sie vorsichtig sein. Aber ihre Loyalität gegenüber Lady Sophie war größer als ihre Angst. Wenn Draven eine Bedrohung war, würde sie ihn ausschalten. Für Sophie, für das Königreich, für alles, woran sie glaubte.
Sharon stand von ihrem Schreibtisch auf und schaute zu dem Rüstungsständer in der Ecke ihres Zimmers. Ihre Finger streiften das kalte Metall ihrer Schulterpanzer, ihr Herz pochte, als sie sich auf das vorbereitete, was kommen würde. Sie legte jedes Teil der Rüstung sorgfältig an, ihre Bewegungen waren präzise, ihre Entschlossenheit wuchs mit jedem Verschluss und jeder Schnalle.
Die Brustplatte, die Handschuhe, die Beinschienen – jedes Teil fühlte sich schwerer an als sonst, das Gewicht ihrer Mission lastete auf ihren Schultern. Sie nahm ihr Langschwert, prüfte sein Gewicht in ihrer Hand, bevor sie es in die Scheide steckte. Das vertraute Gewicht war beruhigend, eine Erinnerung an ihr Training, an ihre Aufgabe.
Sie ging zum Spiegel, ihr Spiegelbild starrte sie an. Ihr Gesichtsausdruck war von eiserner Entschlossenheit, ihre Augen waren scharf, ihr Kiefer angespannt.
Das war ihre Pflicht. Das war ihre Chance, sich zu beweisen – ihre Loyalität gegenüber Lady Sophie, der Familie Blackthorn und dem Königreich. Sie holte tief Luft und strich mit den Fingern über das Blackthorn-Wappen auf ihrer Brust. „Für Lady Sophie“, flüsterte sie, kaum hörbar. „Für das Königreich.“
Mit einem letzten Blick auf ihr Spiegelbild drehte sich Sharon um und verließ ihr Zimmer, ihre Schritte hallten durch den stillen Flur. Sie machte sich auf den Weg zu den Ställen, ihr Herz pochte in ihrer Brust, ihre Gedanken waren auf die bevorstehende Aufgabe konzentriert. Der Himmel war noch dunkel, die Sterne funkelten schwach am Himmel, die Kälte der frühen Morgenluft biss ihr in die Haut. Ihr Pferd, eine robuste fuchsfarbene Stute, stand bereit und spitzte die Ohren, als Sharon näher kam.
Sharon stieg auf ihr Pferd und starrte auf den Horizont. Aetherion wartete auf sie. Der Weg vor ihr war ungewiss und voller Gefahren.
Aber sie würde auf jeden Fall die Wahrheit herausfinden.
„Ich werde mich dir als nützlich erweisen, meine Dame“,