Tiamat.
Der Name allein hat schon Gewicht – eine Urkraft, die älter ist als alles, was wir verstehen, ein Wesen aus totalem Chaos.
Ihre Legende ist alt, älter als die Zeit selbst, und ihre Wurzeln reichen bis in die tiefsten Winkel der Mythologie und der menschlichen Psyche.
In den alten Mythen der Erde wird Tiamat oft als Chaosgöttin dargestellt, als Drachen der Meere, deren Existenz den formlosen Abgrund verkörpert, aus dem alle Dinge entstehen.
Sie ist sowohl der Anfang als auch das Ende, die ursprüngliche Quelle der Existenz, aber auch die Verkörperung der Zerstörung.
In unserem modernen Verständnis ist sie nicht nur ein Drache.
Sie ist ein Symbol für das, was jenseits unseres Verständnisses liegt, für die dunklen Wahrheiten, die hinter den ordentlichen Vorhängen der Zivilisation existieren.
Tiamat repräsentiert das, was nicht kontrolliert werden kann, die unbändige und unvorhersehbare Natur der Schöpfung selbst.
Die ungezähmte Wildnis der Natur, die heftigen Stürme und die Tiefen der Ozeane, die Geheimnisse bergen, die zu dunkel und zu groß sind, als dass der menschliche Verstand sie erfassen könnte – all das ist Tiamat.
Philosophisch gesehen ist Tiamat Entropie.
Sie ist die Kraft, die sich der Ordnung widersetzt, die sich nicht in von Menschen geschaffene Schubladen des Verstehens und Erklärens stecken lässt.
Wir Menschen streben nach Wissen, nach Macht, nach Kontrolle über unsere Umwelt, aber Tiamat erinnert uns an unsere Grenzen.
Sie existiert als Beweis dafür, dass es in diesem Universum Kräfte gibt, die sich nicht beugen lassen, mit denen man nicht verhandeln kann.
Sie ist die Verkörperung des Chaos, das hinter dem zerbrechlichen Anschein von Ordnung lauert – die Erinnerung daran, dass trotz all unserer Bemühungen immer die Abgrund da ist und wartet.
Genau wie Goetia, der die Menschheit zugunsten einer „würdigeren“ Spezies auslöschen wollte, verkörpert Tiamat das Chaos, das die Menschen von Natur aus fürchten, auf das sie aber auch angewiesen sind.
Denn aus dem Chaos entsteht Evolution.
Aus der Dunkelheit entsteht Licht.
Die Triumphe der Menschheit sind immer aus dem Schmelztiegel des Chaos entstanden, aber im Gegensatz zu Goetia sucht Tiamat keine Alternative zur Menschheit – sie ist gleichgültig, eine kosmische Kraft ohne moralischen Kompass.
Sie ist einfach.
Die Welt existiert, das Leben entwickelt sich, und am Ende kehrt alles zu ihr zurück, dem Abgrund, der geduldig darauf wartet, alles zurückzufordern.
Als ich jetzt vor ihr stand, konnte ich nicht anders, als ihre schreckliche Majestät zu bewundern.
Ihr massiver, schlangenartiger Körper wand und krümmte sich, als wäre sie die Verkörperung des Sturms selbst.
Das Mondlicht, das von den vier Monden über ihr in kränklichen Farbtönen geworfen wurde, schimmerte über ihre dunklen Schuppen, die in dem Schein fast flüssig wirkten – sich ständig verschiebend, ständig verändernd, wie ein lebender Nachthimmel.
Ihre Augen, jeder so groß wie ein erwachsener Mann, bohrten sich in uns – es war keine Gnade darin, keine Anerkennung.
Nur Leere.
Acht Flügel entfalteten sich von ihrem Rücken und reckten sich wie kolossale, groteske Banner in den Himmel.
Jeder Flügel war mit sich windenden Tentakeln gesäumt, deren Spitzen mit scharfen Haken versehen waren, die von einer ätzenden Substanz glänzten, die zischte, als sie auf die karge Erde darunter tropfte.
Ihr Maul öffnete sich und enthüllte Reihen über Reihen von Zähnen, die eher wie zerklüftete Berge aussahen als wie etwas, das zu einem Lebewesen gehörte.
Ihre schiere Größe war atemberaubend – selbst die größten Gebäude würden neben ihr winzig erscheinen.
Dies war ein Wesen, das nicht für die Welt der Menschen bestimmt war. Sie gehörte zu etwas Älterem, etwas Dunklerem.
Der Boden schien unter uns zu beben, ihr bloßes Gewicht drückte auf alles um uns herum. Es fühlte sich an, als würde sich die Luft selbst verbiegen und vor ihr in Unterwerfung niederknien.
Das war Tiamat – nicht nur ein Wesen des Chaos, sondern die Verkörperung einer Kraft, die sich jedem Verständnis entzog.
Mit so etwas konnte man nicht reden.
Keine Verhandlungen.
Nur Überleben – wenn das überhaupt möglich war.
Aurelia und Anastasia waren immer noch bewusstlos, ihre Körper von der schimmernden, violetten Barriere umhüllt, die Lyan gezaubert hatte.
Ich warf einen kurzen Blick auf sie, meine Gedanken rasten.
Der Anblick dieser verletzlichen und hilflosen Wesen erfüllte mich mit kalter Wut.
Ich musste sie beschützen – koste es, was es wolle.
Mit einer schnellen Bewegung meines Handgelenks beschwor ich zwei skelettartige Gestalten herbei.
Die Magie strömte mühelos durch mich hindurch, dunkel und kalt wie immer.
Die Skelette tauchten aus dem Boden auf, ihre leeren Augenhöhlen leuchteten schwach, während sie sich bewegten, um meinem unausgesprochenen Befehl zu folgen.
Sie hoben die Barriere, die sich in eine physische, kristalline Kugel verwandelt hatte, und trugen sie davon. Ich wusste nicht, wohin sie sie bringen würden – nur weit, weit weg von dem Monstrum vor uns. Irgendwo wäre es sicherer als hier.
Lyan sah zu, seine Augen weiteten sich leicht, als er begriff, was ich getan hatte.
„Du … du hast meine Magie in einem Augenblick verändert?“, sagte er mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Ungläubigkeit in der Stimme.
Ich antwortete nicht sofort.
Es war keine Zeit für Erklärungen oder Stolz.
Ich hatte den Zauber analysiert, ihn verändert und getan, was getan werden musste.
Nur die Effizienz zählte.
„Konzentrier dich, Lyan“, sagte ich kalt, ohne meinen Blick von Tiamat abzuwenden.
„Wir haben keine Zeit für Ehrfurcht.“
Er nickte und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, als wir beide unsere Aufmerksamkeit wieder auf das Wesen vor uns richteten.
Tiamat hatte ihre riesigen Flügel ausgebreitet und ihren Blick auf uns gerichtet. Ihre Präsenz war überwältigend – wie ein Schatten, der alles Licht und alle Hoffnung verschluckte. Ich spürte, wie mein Instinkt mir sagte, ich solle rennen, fliehen. Aber es gab keinen Ort, an den ich fliehen konnte, keinen Ort, an dem ich vor ihr sicher gewesen wäre.
Lyan und ich tauschten einen Blick.
In diesem Moment waren keine Worte nötig.
Wir wussten beide, was das bedeutete.
Wir wussten beide, was uns erwartete.
Das war wahrscheinlich das Ende – die größte Prüfung, der wir je gegenüberstanden, vielleicht sogar die letzte.
Ich schenkte ihm ein kleines, humorloses Lächeln. „Sieht so aus, als hätten wir den Kürzeren gezogen“, sagte ich, meine Stimme kaum hörbar über dem heulenden Wind.
Er schnaubte und ein freudloses Lachen kam über seine Lippen. „Scheint so“, sagte er. Sein Gesichtsausdruck war angespannt, seine Entschlossenheit spiegelte meine eigene wider. Wir hatten schon mal dem Tod ins Auge gesehen – aber das hier war anders. Das hier ging über alles hinaus, was wir bisher erlebt hatten, über jede Berechnung, jeden Plan. Und doch waren wir hier.
Bevor einer von uns einen Schritt machen konnte, erfüllte ein Geräusch die Luft – eine Stimme, tief und hallend.
Sie war nicht in unseren Köpfen.
Sie kam von außen, vibrierte durch die Luft, durch die Erde, durch unsere Knochen.
Die Stimme von Tiamat.
„Wer … seid ihr?“
Die Frage war einfach, fast harmlos, aber die Wirkung trat sofort ein. Es fühlte sich an, als hätten die Worte meine Seele durchbohrt und die sorgfältig errichteten Barrieren, die ich mein ganzes Leben lang aufgebaut hatte, zerrissen.
Ich erstarrte, mein Geist wurde plötzlich von Erinnerungen überflutet, Bilder blitzten vor meinen Augen auf.
Ich sah mich selbst – zurück auf der Erde. Ein Professor für Maschinenbau, effizient, perfekt, ohne Leidenschaft. Ich sah den kalten, sterilen Hörsaal, die ausdruckslosen Gesichter der Studenten, die kaum zuhörten, die Arbeiten, die ich mit mechanischer Präzision benotete. Es gab kein Feuer, keinen Antrieb.
Ich war perfekt gewesen – vollkommen hohl.
Dann sah ich mein Leben als Draven.
Die Kämpfe, die Forschungen, die Vorlesungen, die ich an der Magic Tower University gehalten hatte. Die Macht, die ich angehäuft hatte, die Feinde, die ich mir gemacht hatte.
Die Leute, die mich hassten, hassten mich immer noch.
Und wofür?
Was hatte ich erreicht?
Wer war ich?
Die Frage hallte unerbittlich in meinem Kopf wider.
.
.
Wer bin ich?
Doch dann hörte ich eine Stimme neben mir. Lyan – seine Stimme war ruhig und fest.
„Mein Name ist Lyan“, sagte er, den Blick auf Tiamat gerichtet, seine Augen vor Entschlossenheit lodernd.
„Auf der Erde war ich Buchhalter. Ich bin hier, um die Welt zu beschützen, nein … um meine Nichte vor der Gefahr zu beschützen.
Und um das zu rächen, wofür ich und meine gefallenen Kameraden gekämpft haben, seit wir uns auf diese höllische Mission begeben haben.“
Ich drehte mich zu ihm um und meine Augen weiteten sich leicht.
Da war sie – die Antwort.
Sein Grund, hier zu sein, sein Ziel.
Es war so einfach, so klar.
Eine Flamme, die in ihm brannte, etwas, das ihn selbst angesichts dieser Monstrosität vorantrieb.
Da wurde mir klar – das war es, was mir fehlte.
Ich hatte Macht, ich hatte Wissen, aber ich hatte keinen Grund, kein Ziel.
Ich war ziellos umhergetrieben, meine Handlungen wurden von nichts anderem als einem kalten, mechanischen Verlangen nach mehr Stärke angetrieben.
Unter dem Deckmantel, die Welt zu retten?
Aber Stärke ohne Ziel war bedeutungslos.
Und jetzt, angesichts von Tiamat, wurde diese Wahrheit offenbart.
Tiamats Blick wanderte zu mir und ihre Augen fixierten mich.
Ihre Stimme hallte erneut wider, und die Frage hallte in meiner Seele wider.
„Wer … bist du?“
Erinnerungen überschwemmten meinen Geist, Szenen aus meinem Leben – aus dem Leben von Dravis Granger, dem Mann, der einst in der modernen Welt gelebt hatte und nun in diesen Körper eingetreten war, und aus dem Leben von Draven, dem Mann, der ich geworden war.
Der Besitzer dieses Körpers.
Wer war ich jetzt?
Bin ich Dravis?
Oder bin ich Draven?
Oder war ich etwas ganz anderes?
Ich schaute wieder zu Lyan und erinnerte mich an ein Wort.
„Ein Buchhalter.“
Ah …
Ich verstehe …
Die Antwort kam mir, zuerst langsam, dann immer klarer.
Es musste kein Name sein.
Es musste kein Titel sein.
Was zählte, war, was ich sein wollte, was ich mit meiner Macht anfangen wollte.
Ich spürte, wie sich ein Lächeln auf meinen Lippen ausbreitete, und ein leises Lachen entrang sich mir.
Die Kleidung des Attentäters, die ich trug, begann sich irgendwie zu verändern, die Schatten lösten sich auf und wurden durch die vertrauten schwarzen Roben eines Professors ersetzt.
Ich richtete mich auf, meine Augen verengten sich und mein Blick wurde wieder konzentriert.
Die kalte, gnadenlose Ausstrahlung, die mich immer geprägt hatte, kehrte zurück, und die Last der Unsicherheit fiel von meinen Schultern.
Ich sah zu Tiamat auf, meine Stimme klar und fest.
„Ich bin ein Professor“, sagte ich, und meine Worte hallten über die öde Landschaft. „Das bin ich, Draven Arcanum Drakhan.“
„Und ich bin hier, um die Königin zu beschützen – und dich zu töten.“