Sophie saß still da und zog die Riemen ihrer Handschuhe zurecht. Das Morgenlicht fiel durch das Fenster und tauchte ihr Zimmer in ein sanftes Licht. Ihr Gesichtsausdruck blieb ruhig, aber innerlich spürte sie, wie Sharons Worte auf ihr lasteten. Sie wusste, was sie riskierte. Aber die Entscheidung war schon gefallen.
„Ich meine es ernst, Sharon“, antwortete Sophie mit fester, aber sanfter Stimme. „Das ist etwas, was ich tun muss.“
Sharon blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Tun müssen? Nein, meine Dame, du musst nichts tun, außer diese Mission abzulehnen. Lass die anderen den Geistergeschichten nachjagen. Du bist eine Ritterkapitänin, keine … entbehrliche Späherin!
Warum solltest du dein Leben für eine verfluchte Stadt riskieren, von der niemand glaubt, dass sie überhaupt existiert?“
Sophie hielt ihrem Blick stand, ihre Entschlossenheit war unerschütterlich. „Weil es meine Verantwortung ist, Sharon. Die Menschen in dieser Stadt könnten in Gefahr sein. Wenn die Berichte stimmen, können wir es uns nicht leisten, sie zu ignorieren.“
„Das ist Aberglaube!“, platzte Sharon heraus und warf verzweifelt die Hände in die Luft. „Du hast die anderen Ritter gehört. Schatten, die zum Leben erwachen und Menschen angreifen? Das ist keine Mission, das ist ein Märchen! Sie haben dir das gegeben, weil sie denken, dass es ein Witz ist. Sie wollen dich loswerden, meine Dame.“
Sophie zuckte bei diesem letzten Satz leicht zusammen. Sie wusste, dass Sharon Recht hatte. Sie war nicht blind dafür, dass der Kommandant sie mit diesem Auftrag praktisch den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hatte. Aber das war ihr egal. Was zählte, war, dass sie eine Chance hatte, sich zu beweisen. Nicht den Rittern.
Nicht einmal Draven. Sondern sich selbst.
„Die können denken, was sie wollen“, sagte Sophie leise, stand auf und befestigte ihr Schwert an ihrer Seite. „Aber ich gehe. Ich werde nicht hier sitzen und darauf warten, dass ein anderer Ritter das tut, was ich tun sollte. Ich bin Ritterin geworden, um Menschen zu beschützen, Sharon. Und wenn ich die Einzige bin, die diese Mission ernst nimmt, dann ist das eben so.“
Sharon starrte sie an, ihr Gesicht eine Mischung aus Wut und Ungläubigkeit. „Es geht hier nicht um den Schutz der Menschen, oder?“, sagte sie mit leiserer Stimme und zusammengekniffenen Augen. „Es geht um diesen verdammten Brief. Es geht um Draven.“
Sophie stockte der Atem, aber sie antwortete nicht. Das brauchte sie nicht. Sharon kannte sie zu gut.
„Lady Sophie, bitte“, fuhr Sharon fort, trat näher und ihre Stimme verlor etwas von ihrer Schärfe. „Ich weiß, wie sehr seine Worte dich verletzt haben. Aber diese Mission … wird nichts ändern. Sie wird nicht ändern, wie sie dich sehen. Sie wird nicht ändern, was er gesagt hat.“
Sophie wandte sich ab und ließ ihren Blick auf den polierten Stahl ihres Schwertes fallen. „Vielleicht nicht“, flüsterte sie, kaum hörbar. „Aber ich muss es versuchen. Ich kann nicht weiter im Schatten dieses Briefes leben, Sharon. Ich muss beweisen, dass ich mehr bin, als sie denken. Ich muss es mir selbst beweisen.“
Sharon seufzte frustriert und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Und was ist mit uns? Mit deiner Truppe? Wir folgen dir, weil wir an dich glauben, Lady Sophie. Nicht wegen irgendeinem blöden Brief von Draven oder wegen dem, was die anderen Ritter hinter deinem Rücken sagen. Wir vertrauen dir.
Und ich kann nicht einfach daneben stehen und zusehen, wie du dich in solche Gefahr begibst.“
Sharons Worte ließen Sophies Herz höher schlagen. Sie hatte immer gewusst, dass ihre Adjutantin ihr treu ergeben war, aber es laut zu hören, war etwas anderes. Es gab ihr Kraft. Aber es machte ihre Entscheidung auch noch schwieriger.
„Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, Sharon“, sagte Sophie und drehte sich zu ihr um. „Und ich bin dir für deine Loyalität dankbar. Aber du musst mir in dieser Sache vertrauen. Ich werde vorsichtig sein.
Ich werde keine unnötigen Risiken eingehen. Aber ich muss gehen.“
Sharon ballte die Fäuste, sichtlich hin- und hergerissen zwischen ihrer Loyalität und ihrer Angst um Sophies Sicherheit. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie erneut widersprechen, doch dann atmete sie tief aus und ließ die Schultern hängen.
„Na gut“, murmelte sie, obwohl ihre Stimme immer noch vor Frustration bebte. „Wenn du gehst, komme ich mit. Aber erwarte nicht, dass mir das gefällt.“
Sophie lächelte schwach. „Das würde mir im Traum nicht einfallen.“
Sharon warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts mehr. Sie drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Zimmer, sodass Sophie mit ihren Gedanken allein zurückblieb.
Für einen Moment war die Stille im Zimmer erdrückend. Sie starrte auf den Brief von Draven, der immer noch ordentlich gefaltet auf der Ecke ihres Schreibtisches lag. Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider – seine kalten, verletzenden Worte über ihre Fehler, ihre Unzulänglichkeit.
Sie schüttelte den Kopf und verdrängte die Gedanken. Es ging nicht um Draven. Es ging darum, das Richtige zu tun. Darum, die Ritterin zu sein, die sie immer sein wollte.
Die Tür quietschte erneut und diesmal trat Annalise ein. Die strahlend blauen Augen ihrer kleinen Schwester waren vor Sorge weit aufgerissen, ihr sonst so verspieltes Wesen war einer ernsten Miene gewichen.
„Schwester“, sagte Annalise leise und schloss die Tür hinter sich. „Ich habe gehört, was Sharon gesagt hat. Du gehst wirklich auf diese Mission?“
Sophie seufzte und fürchtete sich schon vor dem Gespräch, das sie erwartete. „Ja, Annalise. Ich muss.“
Annalise verzog frustriert das Gesicht, verschränkte die Arme und stellte sich zwischen Sophie und die Tür. „Nein, das musst du nicht. Diese Mission ist lächerlich, und das weißt du auch. Die Ritter wollen dich loswerden, große Schwester. Sie sind neidisch auf dich. Sie verdienen dich nicht.“
Sophie schüttelte den Kopf und ging auf ihre Schwester zu. „So einfach ist das nicht. Menschen sind in Gefahr, und wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass die Berichte stimmen, muss ich gehen. Ich kann das nicht ignorieren.“
„Warum musst du immer so … so edelmütig sein?“, schnaufte Annalise und kniff die Augen zusammen. „Warum kannst du nicht einfach hierbleiben und es einmal jemand anderem überlassen? Du bist diesen Rittern nichts schuldig. Seit Draven deinen Brief geschickt hat, haben sie dich schrecklich behandelt.“
Sophie zuckte bei der Erwähnung von Draven zusammen, aber sie blieb ruhig. „Es geht nicht um sie, Annalise.
Es geht darum, das Richtige zu tun. Ich bin Ritter geworden, um Menschen zu beschützen. Wenn ich diese Mission nicht übernehme, wer dann?“
Annalises Lippe zitterte leicht, und für einen Moment brach ihre harte Fassade auf. „Aber was, wenn dir etwas zustößt? Ich kann dich nicht verlieren, Schwester.“
Sophies Herz schmerzte beim Anblick der Verletzlichkeit ihrer Schwester. Annalise war immer so stark gewesen, so beschützend. Aber hinter ihrer scharfen Intelligenz und ihrer wilden Loyalität verbarg sich eine Zerbrechlichkeit, die nur Sophie wirklich verstand.
„Ich werde vorsichtig sein“, versprach Sophie und legte eine Hand auf Annalises Schulter. „Ich habe schon Schlimmeres überstanden. Das weißt du.“
Annalises Augen glänzten vor unterdrückten Tränen, aber sie wischte sie schnell weg und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder hart. „Na gut. Dann geh. Aber denk nicht, dass ich hier rumhocken und auf etwas Schlimmes warten werde. Wenn du nicht zurückkommst, schwöre ich dir, dass ich …“
„Annalise.“ Sophies Stimme war sanft, aber bestimmt und durchbrach den emotionalen Ausbruch ihrer Schwester. „Ich komme zurück. Das verspreche ich dir.“
Annalise starrte sie einen langen Moment an und suchte in Sophies Gesicht nach Anzeichen von Zweifel. Schließlich seufzte sie und schüttelte den Kopf. „Du bist zu gut für diese Welt, Schwester. Deshalb muss ich dich beschützen.“
Sophie lächelte, obwohl ihr Herz schwer war. „Ich brauche keinen Schutz, Annalise. Ich brauche dein Vertrauen.“
Annalises Lippen verzogen sich zu einem kleinen, widerwilligen Lächeln. „Ich vertraue dir. Aber nur für den Fall … Ich werde ein paar Freunde zusammenrufen. Du weißt schon, falls ich dich aus irgendwelchen Schwierigkeiten retten muss, in die du dich gebracht hast.“
Sophie blinzelte, plötzlich besorgt. „Annalise, was hast du vor?“
Annalises Lächeln wurde breiter, und ein verschmitztes Funkeln kehrte in ihre Augen zurück. „Ach, nichts Besonderes. Nur eine Vorsichtsmaßnahme. Mach dir keine Sorgen, große Schwester.“
„Annalise …“
„Versprich mir einfach, dass du vorsichtig bist“, unterbrach Annalise sie, ihre Stimme plötzlich wieder ernst.
„Ich meine es ernst, Sophie. Wenn dir etwas zustößt … werde ich diesen Rittern niemals vergeben. Oder Draven. Oder irgendjemand anderem.“
Sophies Herz zog sich bei den heftigen Worten ihrer Schwester zusammen, aber sie nickte. „Ich verspreche es.“
Annalise warf ihr einen letzten, langen Blick zu, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte und zur Tür ging. „Mach bloß keine Dummheiten, Schwesterchen. Ich passe auf dich auf.“
Als sich die Tür hinter ihr schloss, atmete Sophie aus, ohne bemerkt zu haben, dass sie den Atem angehalten hatte. Annalises Sorge lastete schwer auf ihr, aber sie durfte sich davon nicht von ihrer Mission abbringen lassen. Sie musste das tun – für sich selbst, für die Ritter und für die Menschen, die möglicherweise unter der Schattenpest litten.
Und trotz der Worte ihrer Schwester wusste Sophie, dass sie sich in Gefahr begab. Aber zum ersten Mal seit Wochen hatte sie das Gefühl, einen Sinn zu haben – eine Chance, sich zu beweisen.
Als sie die Faust ballte, tauchte das Gesicht eines bestimmten Mannes in ihrem Kopf auf, des Mannes, der ihr ehemaliger Verlobter gewesen war.
„Ich werde dir zeigen, dass ich auf eigenen Beinen stehen kann.“