„Es ist lange her, Dravis.“
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Diese Stimme … Ich kannte sie. Die Erkenntnis traf mich wie eine Welle, und zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit spürte ich, wie die Last einer längst begrabenen Erinnerung wieder auftauchte.
Ich starrte ins Licht, meine Gedanken rasten und setzten die Fragmente meiner Vergangenheit zusammen. Es gab nur eine Person, die so mit mir sprechen konnte, mit solcher Autorität, solcher Vertrautheit.
„Elaitharis …“, hauchte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Das goldene Licht verdichtete sich zu einer klareren Gestalt, und da stand sie vor mir, die Elfenkönigin selbst. Sie sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte – groß, anmutig, ihr Haar floss wie flüssiges Silber, ihre Augen strahlten Weisheit und Alter aus. Ihre Präsenz erfüllte den Raum, obwohl sie keine Schwere hatte, keine physische Form.
Sie war ein Geist, ein Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit.
„Es ist schön, dich wiederzusehen“, sagte sie mit derselben ruhigen Kraft in der Stimme wie immer. „Du und Königin Aurelia habt tapfer an meiner Seite gekämpft. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns in diesem Leben noch einmal sehen würden, Dravis Granger.“
Als ich meinen alten Namen aus ihrem Mund hörte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Ich war schon so lange nicht mehr so genannt worden – ich hatte fast vergessen, wie sich das anfühlte. Draven war zu dem geworden, der ich war, zu der Identität, die ich mir in diesem neuen Leben aufgebaut hatte. Aber als ich sie das sagen hörte, als ich hörte, dass sie mich erkannte … war es, als würde ein Teil von mir wieder zum Leben erweckt, den ich für verloren gehalten hatte.
„Was machst du hier?“, fragte ich mit leiser, vorsichtiger Stimme.
Elaitharis lächelte sanft, obwohl ihr Blick traurig war. „Ich bin jetzt nur noch ein Geist, der am Rande dieser Welt verweilt, gebunden an die Magie meines Volkes. Als du mir geholfen hast, das Land der Elfen zu verteidigen, wusste ich, dass dein Schicksal mit dem unseren verflochten ist. Selbst im Tod haben mich die Echos deiner Taten erreicht.“
Sie blickte auf Armandras Überreste und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. „Dieses Kind … sie trug so viel Hass in ihrem Herzen. Aber ich kann den Schmerz darunter spüren. Den Verlust ihres Volkes, ihrer Geschichte. Er hat sie aufgezehrt, wie so viele meiner Art.“
Ihr Blick kehrte zu mir zurück, scharf und wissend. „Aber du verstehst das, nicht wahr, Dravis? Du hast gesehen, wozu Hass fähig ist. Du hast gesehen, wie er zerstört, wie er selbst die edelsten Seelen verdirbt.“
Ich antwortete nicht. Was hätte ich sagen sollen? Ich hatte Kriege, Verrat und den Aufstieg der Dunkelheit erlebt. Ich hatte den Preis des Hasses aus erster Hand erfahren.
„Ich bin hier, um dir Rat zu geben“, fuhr Elaitharis fort. „Die Welt, die du kanntest, die Schlachten, die du geschlagen hast – sie unterscheiden sich nicht so sehr von denen, denen du jetzt gegenüberstehst. Die Magie, die in diesem Verlies schwebt, die Verderbnis, die sich in Armandras Seele eingenistet hat – all das ist Teil eines größeren Kampfes, der weit über diesen Ort hinausreicht.“
Ihre Augen trafen meine, und für einen Moment sah ich die Last der Jahrhunderte in ihrem Blick. „Die Dämonen rühren sich wieder. Ihr Einfluss wächst, genau wie zu unserer Zeit. Du und Aurelia habt gekämpft, um die Reiche vor ihrer Verderbnis zu schützen, aber ihre Macht ist noch nicht vollständig ausgelöscht. Du musst wachsam sein, Dravis. Die Dunkelheit, die einst die Welt zu verschlingen drohte, ist nicht verschwunden.
Sie hat nur gewartet.“
Ich nickte langsam, während die Realität ihrer Worte zu mir durchdrang. Ich hatte immer gewusst, dass mehr im Spiel war, mehr als nur Armandras persönliche Rache. Die Dämonen, die Verderbnis – sie waren immer noch da draußen, lauerten im Schatten und warteten auf ihre Chance, erneut zuzuschlagen.
„Ich werde tun, was ich tun muss“, sagte ich leise, und meine Entschlossenheit wuchs. „So wie ich es immer getan habe.“
Elaitharis lächelte, wenn auch mit einem Hauch von Traurigkeit. „Ich weiß, dass du das wirst. Das hast du immer getan.“ Sie sah auf Elandris hinunter, die immer noch bewusstlos in meinen Armen lag. „Und sie … sie ist stärker, als sie ahnt. Führe sie gut, Draven. Sie wird in den kommenden Kämpfen eine wichtige Rolle spielen.“
Elaitharis‘ Geist schwebte noch in der Luft, und das sanfte goldene Licht ihrer Gegenwart erhellte den Raum. Sie lächelte warm, aber da war noch etwas anderes – eine Emotion in ihren Augen, die ich noch nie gesehen hatte, etwas Tieferes als nur die Last der Jahrhunderte, die sie trug. Ihr Blick fiel auf mich, und ihr Gesichtsausdruck wurde noch sanfter, als sie wieder sprach.
„Ich muss zugeben, Dravis“, sagte sie leise, mit einem Hauch von Belustigung in der Stimme, „es ist eine Freude, nach all den Jahren endlich dein wahres Gesicht zu sehen. So siehst du also wirklich aus.“
Ihre Worte trafen mich unvorbereitet, und für einen Moment wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Mir wurde klar, dass sie sich auf die Vergangenheit bezog – als ich während des großen Krieges an ihrer Seite gekämpft hatte und mein Gesicht immer unter der Kapuze eines schwarzen Umhangs und einer Maske verborgen war. Damals hatte ich niemandem meine wahre Identität gezeigt. Das war sicherer so. Meine Rolle war geheim gewesen, und Anonymität war meine Waffe gewesen.
Aber jetzt, wo ich hier stand und mein Gesicht völlig ungeschützt war, fühlte ich mich seltsam verletzlich. Elaitharis‘ Blick blieb auf mir haften, als würde sie jedes Detail in sich aufsaugen und sich jede Linie meiner Gesichtszüge einprägen.
„Hör auf“, murmelte ich, wobei sich ein Hauch von Unbehagen in meiner Stimme bemerkbar machte.
Es war nicht meine Art, mich überraschen zu lassen, aber die Art, wie sie mich anstarrte, gab mir das Gefühl, als würde sie mich durchschauen, als würde meine Vergangenheit mit ihr irgendwie offen daliegen.
Als ich das sagte, flackerte Elaitharis‘ Blick, und zu meiner Überraschung erröteten ihre Wangen ganz leicht. Sie blinzelte und wandte dann schnell ihren Blick ab, wobei ihre königliche Gelassenheit für einen Moment ins Wanken geriet.
„Ich sehe, deine Scharfsinnigkeit ist ungebrochen“, antwortete sie und fasste sich wieder. Ein kleines, verlegene Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie wieder zu mir aufsah. „Verzeih mir. Es ist nur … nach all dieser Zeit ist es seltsam, dich so zu sehen, wie du bist, ohne den Schleier des Geheimnisses, den du einst um dich gelegt hast.“
Ihre Stimme klang jetzt leichter, aber darunter konnte ich etwas Tieferes spüren – eine Verbindung zwischen uns, die die Jahre und die Kämpfe, die wir gemeinsam bestritten hatten, überdauerte. Es war nichts Romantisches, nicht wirklich. Aber es war ein Band, das aus gegenseitigem Respekt entstanden war und im Feuer des Krieges geschmiedet worden war.
Elaitharis holte tief Luft, ihr Gesichtsausdruck wurde wieder weicher, als sie leicht den Kopf neigte. „Es ist Zeit für mich zu gehen“, sagte sie mit einer Stimme, die von Abschied schwang. „Dravis Granger … Draven Arcanum von Drakhan … welchen Namen auch immer du wählst, du bist immer noch derselbe Mann, der mir in den dunkelsten Zeiten zur Seite stand. Und jetzt, in dieser Welt, gebe ich dir meinen Segen.“
Ihre Worte hallten in der Luft wider, kraftvoll und erfüllt von der uralten Magie ihres Volkes. Ich konnte spüren, wie sie sich um mich herum ausbreiteten, nicht als Last, sondern als Geschenk. Sie sah auf Elandris hinunter, die immer noch bewusstlos in meinen Armen lag, und lächelte sanft. „Pass auf sie auf, Draven. Sie hat eine Stärke, die sie noch nicht ganz erkannt hat. Führe sie, so wie du mich einst geführt hast.“
Elaitharis hob ihre Hand, und als sie das tat, schwebte der Wasserzauberstift, den Elandris zuvor verwandelt hatte, von der Stelle neben mir empor. Er schwebte zwischen uns, und die Runen auf seiner Oberfläche leuchteten schwach mit demselben goldenen Licht, das Elaitharis umgab.
„Dieser Stift“, sagte sie mit verspielter Stimme, „wird einen Teil von mir mit sich tragen, wohin du auch gehst. Ich werde in gewisser Weise durch diese Magie weiterleben.“ Ihr Lächeln wurde breiter, und ihre Augen funkelten mit einer alten, vertrauten Verschmitztheit. „Pass gut auf ihn auf, okay?“
Bevor ich antworten konnte, zwinkerte sie mir spielerisch zu, eine Geste, die so unerwartet kam, dass ich für einen kurzen Moment fast vergaß, wie schwer alles war, was gerade passiert war.
Das goldene Licht um sie herum begann zu verblassen, ihre Gestalt löste sich auf wie Nebel im Wind. Der Stift, der nun in neuem Glanz erstrahlte, schwebte kurz vor mir, bevor er sanft in meiner Hand landete.
Die Luft fühlte sich leichter an, die bedrückende Dunkelheit des Verlieses wich endlich etwas Friedlicherem, Heiterem.
„Leb wohl, Dravis Granger“, hallte Elaitharis‘ Stimme leise, als ihre Gestalt sich vollständig auflöste, „und leb wohl, Draven Arcanum von Drakhan. Die Welt wird dich bald wieder brauchen. Sei bereit.“
Und dann war sie verschwunden.
Ich stand da, den Stift warm in der Hand, und ließ ihre Worte auf mich wirken. Ich sah zu Elandris hinunter, die jetzt ruhig atmete und friedlich dalag. Was auch immer vor uns lag, ich wusste, dass dies nur der Anfang von etwas viel Größerem war. Die Dämonen, die Verderbnis … alles regte sich wieder. Elaitharis‘ Warnung war nicht nur eine Botschaft – sie war ein Aufruf zu den Waffen.
Aber im Moment war es still. Ein Moment des Friedens, wenn auch nur ein flüchtiger.
Ich hielt den Stift hoch und beobachtete, wie die Runen mit einem schwachen blauen Licht flackerten. Elaitharis‘ Gegenwart war zwar jetzt weit weg, aber immer noch bei mir, ihre Magie war in dieses Werkzeug eingewoben. Es war eine Erinnerung, nicht nur an die Schlachten, die wir gemeinsam geschlagen hatten, sondern auch an die, die noch vor uns lagen.
Als ich den Stift wegsteckte, warf ich noch einen letzten Blick auf die Stelle, an der ihr Geist verschwunden war.
„Bis wir uns wiedersehen“, flüsterte ich leise.
Doch während ich diesen Moment genoss, hörte ich eine Stimme, eine unheimliche Stimme, die ich erwartet hatte.
„Schon wieder. Du hast meine Pläne durchkreuzt, Mensch.“