Über den Köpfen aller anderen am Tisch tauchten verschiedene Grafiken und Zahlen auf, und als Lex sie ansah, konnte er den mentalen Zustand aller Anwesenden klar einschätzen. Man kann sagen, dass es fast allen ziemlich mies ging – zumindest auf den ersten Blick.
Abgesehen von Lex und dem Mann am Kopfende des Tisches, die beide relativ ruhig waren, gab es noch zwei andere Personen, die überraschende Emotionen zeigten. Der eine war der alte Mann, der hyperventilierte.
Obwohl sein Zustand schrecklich zu sein schien, war er innerlich ziemlich ruhig. Er nutzte sein Alter und seinen Zustand, um Mitleid von der Gruppe zu erlangen, da er im Moment keinen anderen Vorteil für sich sehen konnte. Die andere war ein Mädchen, das Lex direkt gegenüber saß.
Sie war blass wie ein Geist und zitterte, als hätte sie eine Erkältung, aber innerlich beobachtete sie alle sehr aufmerksam. Im Gegensatz zu dem alten Mann, der nur um Mitleid buhlte, war sie von einer kalten, berechnenden Ruhe erfüllt und bereit, jeden anderen zu Fall zu bringen, um sich selbst zu retten. Und wenn sie nicht gerettet werden konnte … würde sie alle mit sich in den Abgrund reißen.
Doch während die Grafiken und Zahlen plötzlich auftauchten, während er sprach, und sich sogar veränderten, als er fertig war, verschwanden sie wenige Sekunden später wieder. Es schien, als könne Lex ihren mentalen Zustand nur anhand ihrer Reaktionen auf seine Worte bestimmen. In diesem Fall war es offensichtlich, dass der Prozess etwas mit Lex‘ Fähigkeit zu sprechen zu tun hatte, oder vielleicht damit, die Situation anhand seiner Worte zu manipulieren.
Aber er war sich nicht sicher, was das Ziel war.
Ging es einfach darum, irgendwie zu überleben, oder sollte die ganze Gruppe am Leben bleiben?
Lex konnte den Gesichtsausdruck des Mannes nicht sehen, da er hinter der Maske verborgen war, aber die Tatsache, dass er für ein paar Sekunden innegehalten hatte und Lex weiterhin anstarrte, war ebenfalls ein Hinweis. Er musste eine klare Vorstellung davon haben, was in dem anderen vor sich ging, wenn er ihn manipulieren wollte.
Da es still blieb, wurden alle auf dem Tisch immer ängstlicher und schauten Lex mit wütenden und verletzten Blicken an, aber Lex blieb ganz locker.
„Du hast nicht Unrecht“, sagte der Mann schließlich und teilte sich selbst auch drei Karten aus. Da alle Karten verdeckt waren, konnte niemand sehen, welche Karten sie hatten, und da das Kartenspiel neu war, gab es auch keine Markierungen oder Hinweise auf den Karten.
„Warum sollte ich mir selbst dieses glorreiche Ziel vorenthalten? Wir sollten diese Reise alle gemeinsam machen. Ich erkläre euch die Regeln. Das ist ein besonderes Spiel, das nur für uns gemacht wurde. Da wir etwas über das Leben lernen, musste ich es auch nachahmen. Manche Menschen werden mit mehr Glück geboren als andere, während andere das, was ihnen gegeben wurde, nutzen, um ihr Leben zu ändern.
Also, genau wie im echten Leben, habt ihr alle Karten bekommen. Das Spiel geht über drei Runden. In jeder Runde könnt ihr eure Karten anschauen und eine tauschen.“
Der Mann nahm die oberste Karte vom Stapel und schob sie verdeckt in die Mitte des Tisches.
„Die einzige Regel ist, dass ihr die Karte, die ihr tauscht, nicht anschauen dürft. Es fängt mit einer zufällig ausgewählten Person an, und jeder ist der Reihe nach dran, entweder die Karte in der Mitte des Tisches zu tauschen oder zu passen. Wenn ihr tauscht, legt ihr eine Karte verdeckt ab und nehmt die Karte in der Mitte des Tisches. Was ihr bekommt, hängt wieder einmal vom Glück ab.
Sobald alle an der Reihe waren, geht’s in die zweite Runde, und ich geb jedem noch eine Karte. So machen wir insgesamt drei Runden.
Am Ende der drei Runden zeigen alle ihre Karten, und wir kommen zum nächsten Aspekt des Lebens: Überleben des Stärkeren.
Wir bestimmen nach Pokerregeln, welches Blatt das beste ist, aber statt nach dem besten Blatt suchen wir nach dem schwächsten Blatt. Wer das schwächste Blatt hat, scheidet aus dem Spiel aus, sagen wir mal so.
Da wir die Zahl 3 so oft wiederholen, spielen wir insgesamt 3 Runden.
„Wie klingt das? Bisher hatte jeder eine Überlebenschance von etwa 50 %, was das Spiel ziemlich spannend gemacht hat. Aber da ich gebeten wurde, mitzuspielen, wird es sicher noch interessanter. Hoffentlich bin ich nicht der Erste, der verliert, sodass ihr alle an eure Stühle gefesselt seid und nicht mehr raus könnt.“
Die ganze Gruppe warf Lex einen tödlichen Blick zu, aber der Mann selbst schien sich davon nicht sonderlich beeindruckt zu zeigen. Stattdessen war sein Blick auf die Karten geheftet, die er erhalten hatte. Ursprünglich hatte er überlegt, welche Strategie er anwenden sollte, weshalb er seine Karten in die Hand genommen hatte. Doch nur Sekunden, nachdem er seine Karten in die Hand genommen hatte, verschwanden die Zahlen darauf.
Es war klar, was die Prüfung ihm sagen wollte. Mit Karten würde er aus dieser misslichen Lage nicht entkommen. Er musste sich auf seine Worte verlassen, um die Situation zu manipulieren und sich und die anderen irgendwie zu befreien.
Das war … eigentlich ziemlich spannend. Mit einem Lächeln legte Lex seine Karten hin und sah dem Mann am Kopfende des Tisches in die Augen.
„Das ist ein spannendes Spiel“, sagte er freundlich. „Sollen wir uns vorstellen? Es macht keinen Spaß, mit Fremden zu spielen.“
In dem Moment, als er diese Worte aussprach, tauchten in seinem Kopf Informationen über seine Identität und die Hintergründe dieses Prozesses auf.
„Ich heiße Bond. Covalent Bond“, sagte Lex mit einem Lächeln, das für die Situation viel zu ungewöhnlich war.
Eines der Mädchen am Tisch brach in Tränen aus, als Lex sich vorstellte, was die angespannte Situation noch unangenehmer machte.
„Ich kenne sie nicht, ich schwöre“, sagte Lex noch einmal.
Als Erstes musste er dem maskierten Mann seine Kraft nehmen.
Psychotische Menschen, die so etwas tun würden, liebten das Gefühl, die Kontrolle zu haben, also musste Lex ihm diese Kontrolle zuerst nehmen. Lex war zuversichtlich, dass der Mann seine eigenen Regeln nicht brechen und Lex nicht vorschnell Schaden zufügen würde.
Aber Lex wusste auch, dass er nur einen Versuch hatte, um aus dieser misslichen Lage herauszukommen. Schließlich konnte er mit leeren Karten nicht wirklich hoffen, das Spiel normal zu gewinnen.
