Lex sagte nichts und schaute nur still auf den schlafenden Teenager. An seinem eigenen Hochzeitstag hatte er ein Risiko eingegangen, nicht für sich selbst, sondern für das Gasthaus, und das war der Dank dafür.
Als er so vor Harry stand, wäre es für Lex ein Leichtes gewesen, sich elend zu fühlen und in seinen Fehlern zu versinken. Aber Selbstmitleid lag Lex einfach nicht im Blut. Als er Harry ansah, wurde Lex‘ Stimmung nicht schlechter, sondern seine Gedanken klärten sich. Komme, was wolle, er würde Harry das zurückzahlen.
Er sah auch Hailey an. Als Lex gehört hatte, dass Harry heiraten würde, hatte er nur an seinen eigenen Single-Dasein denken können, aber in Wahrheit hatte er sich sehr für ihn gefreut. Er stellte sich vor, wie schön das Leben dieses neuen Paares sein würde, an dem sichersten und magischsten Ort im Universum.
Er war ihnen beiden etwas schuldig, weil er ihnen diesen Traum nicht erfüllen konnte. Seine Fäuste ballten sich. Er war ihnen etwas schuldig.
Lex verschwand wieder, ohne ein Wort zu sagen. Hailey, die neben der Kapsel geschlafen hatte, merkte nicht einmal, dass der Gastwirt da gewesen war. In gewisser Weise war es besser so. Lex hatte Harry nicht besucht, um gesehen zu werden. Er war gekommen, um seine Motivation wieder zu wecken, mit größerer Entschlossenheit als je zuvor. Er brauchte das, wenn er seine eigenen Schwächen überwinden wollte.
Tatsächlich gab es einen Grund, warum Lex sich so seltsam verhalten hatte, auch wenn er sich bemüht hatte, es nicht zuzugeben. Er versuchte, sich so sehr zu beschäftigen, dass er gar nicht darüber nachdenken konnte. Aber tief in seinem Inneren hatte er bereits erkannt, dass etwas nicht stimmte.
Genauer gesagt, hatte Lex schon an dem Tag, an dem sein Tumor entfernt wurde, eine Veränderung im Verhalten seiner Familie bemerkt. Später bekam er noch mehr Hinweise darauf, dass nicht alles so war, wie es schien, aber er tat alles, um das zu ignorieren.
Er versuchte nicht nur, nicht darüber nachzudenken, sondern verdrängte auch alle Erinnerungen an sein Leben auf der Erde, damit er nicht mehr an die offensichtlichen Fehler in ihrem Verhalten denken musste.
Aber je mehr er sich weiterentwickelte und sein Geist immer wacher wurde, desto mehr musste Lex sich ablenken, weil sein Verstand immer wieder Hinweise aufgriff, die er so sehr zu ignorieren versuchte. Das führte dazu, dass er immer weniger Zeit im Gasthaus verbrachte, weil es ihm nicht das gleiche Gefühl der Dringlichkeit gab wie das Leben auf verschiedenen Planeten, wo er Gefahren ausgesetzt war.
Aber er konnte so nicht weitermachen, also musste er es sich eingestehen.
Seine Familie hatte Geheimnisse vor ihm und hatte sich so verhalten, dass er Abstand zu ihnen hielt, während er dachte, es sei seine eigene Idee. Er hatte sich so clever gefühlt, als er nach New York gezogen war, um ihnen zu entkommen, und hatte immer hart gearbeitet, um sicherzustellen, dass sie niemals dort Urlaub machen würden.
Aber jetzt wusste er, dass er nur die Rolle spielte, die sie von ihm erwarteten.
Er war sauer, enttäuscht, wütend und noch vieles mehr. Aber am Ende, als sich alle Gefühle vermischten, kam er zu dem Schluss, dass es Lex einfach egal war. Er wollte nicht zurück zur Erde und sich mit ihnen wegen einer Wahrheit auseinandersetzen, die wahrscheinlich enttäuschend sein würde.
Da sie Abstand zu ihm hielten und Geheimnisse vor ihm hatten, sah er auch keinen Grund, zu ihnen zurückzukehren. Es tat ihm leid für seine jüngeren Schwestern, denn es war sehr wahrscheinlich, dass sie in der ganzen Angelegenheit keine Wahl hatten. Aber niemand konnte Belle zwingen, etwas zu tun, was sie nicht wollte, also wusste er, dass sie definitiv mitdrückte.
Egal, was das Geheimnis war oder was der Grund dafür war, da sie beschlossen hatten, ihn auf Distanz zu halten, würde er dasselbe tun. Es war keine leichte Entscheidung, und er hatte sie vermieden, weil er wusste, dass er wahrscheinlich genau das tun würde, wenn er sich jemals der Wahrheit stellen würde. Aber er konnte es sich nicht länger leisten, abgelenkt zu sein, also musste er sich dieser Wahrheit stellen und eine Entscheidung treffen.
In gewisser Weise fühlte Lex eine Last von sich fallen, da er beschlossen hatte, zumindest vorerst die Verbindung zu seiner Familie abzubrechen. Als normaler Mensch, der seine Familie liebte, war das keine einfache Entscheidung, aber ob diese Einstellung schon immer da war oder erst während seiner Zeit als Gastwirt entstanden war, Lex war ein bisschen stolz darauf und wollte sie nicht aufgeben. Daher war dies letztendlich die einzige Wahl.
Warum sollte er seine Zeit damit verbringen, sich um Leute zu kümmern, die alles taten, um ihn auf Distanz zu halten, wenn er Menschen hatte, die ihr Leben für seinen Ruf riskierten?
Nachdem diese Last von ihm genommen war und sein Geist frei war, konnte Lex sich endlich ganz auf das Gasthaus konzentrieren. Lex‘ größte Stärke war sein Verstand.
Angesichts der Dummheiten, die er in letzter Zeit begangen hatte, würde man das nicht glauben, aber das lag nur daran, dass Lex es normalerweise als lästig empfand und es ihm nicht wert war.
Jetzt, da alle Ablenkungen weg waren und eine beispiellose Konzentration und Willenskraft sein Handeln bestimmten, war es endlich an der Zeit, seinen Verstand einzusetzen.
Lex tauchte wieder in seinem Büro auf und stellte fest, dass Luthor bereits dort stand und eine Tasse frischen Kaffee auf einem Tablett für ihn bereitstand.
„Willkommen zurück“, sagte Luthor und reichte dem Gastwirt den Kaffee, den er beim letzten Mal verpasst hatte.
„Wir haben viel zu tun“, war alles, was Lex antwortete, als er die Tasse nahm und einen Schluck trank.
Seine ernste Miene wäre fast verflogen, als er sich mit Mühe davon abhielt, eine Grimasse zu ziehen. Der Kaffee war viel zu bitter.
