Das Mädchen, das sich über Lex geärgert hatte, sah seinen nachdenklichen Gesichtsausdruck und schnaubte erneut.
„Warum tust du so, als hättest du das zum ersten Mal gehört? Selbst Kleinkinder kennen diese Geschichte“, sagte sie und war aus irgendeinem Grund genervt von ihm.
„Meine Seele wurde bei einer Begegnung mit einem Kraven während meiner Flucht aus Gristol verletzt, deshalb sind meine Erinnerungen durcheinander“, gab Lex die Ausrede, die in den letzten Tagen zu seiner Standarderklärung für alles geworden war, ohne wirklich darüber nachzudenken. Seine Gedanken waren gerade damit beschäftigt, wie er die Herkunft des Kraven untersuchen sollte.
Seine gedankenverlorenen Worte erschütterten das Mädchen jedoch. In ihrem Kopf verband sie sein seltsames und abwesendes Verhalten plötzlich mit einer Verletzung seiner Seele und fühlte sich plötzlich schuldig, weil sie so aggressiv zu ihm gewesen war.
„Ich habe von Gristol gehört, mein Beileid“, sagte sie mit plötzlich sanfter und fürsorglicher Stimme.
„Ist schon okay“, sagte Lex, der nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Er wusste buchstäblich nichts über Gristol oder die Ereignisse dort, also war es am besten, das Thema zu vermeiden.
„Ich muss zu meiner nächsten Stunde, ich habe Geografie. Die will ich nicht verpassen“, sagte er, als er aufstand.
„Oh, ich habe auch Geografie. Weißt du, wo das ist?“
„Nein, aber das finden wir schon gemeinsam heraus.“
Das Mädchen, Amelia, war sehr gesprächig, sobald sie Lex besser kennengelernt hatte. Oder vielleicht wollte sie nur ihre Schuldgefühle wegen ihres früheren Verhaltens kompensieren. Wie auch immer, Lex fand ihre Gesellschaft angenehm, während sie den Weg zu ihrer nächsten Stunde suchten.
Lex freute sich auf den Geografieunterricht, weil er mehr über aktive Vulkanregionen erfahren wollte, oder eigentlich über jeden Ort, der reich an spiritueller Energie zu sein schien. Leider war der Unterricht genauso trocken wie der Geschichtsunterricht unterhaltsam war. Er lernte etwas über die Lage von Städten, Siedlungsmuster, verteidigungsfähige Standorte und so weiter und so fort. Nichts in diesem Unterricht schien für Lex‘ missliche Lage von Nutzen zu sein.
Das Schlimmste war, dass Lex nicht mal abschalten konnte, weil er Angst hatte, etwas zu verpassen, worauf er eigentlich gewartet hatte.
Doch zumindest in der ersten Stunde entdeckte Lex nichts, was für ihn von Nutzen war. Nach dem Erdkundeunterricht trennten sich Lex und Amelia, da er als Nächstes Politikunterricht hatte, schlicht und einfach.
Es gab sieben große Völker im Kristallreich, und jedes dieser sieben Völker lebte größtenteils und praktischerweise in seiner eigenen Region. Natürlich gab es einige Angehörige jedes Volkes, die aus verschiedenen Gründen weit reisten, aber was die Nationen betraf, handelte es sich dabei nur um Einzelgänger.
Insgesamt hatten die Menschen hauptsächlich Kontakt zu den Wächtern und den Varns. Im Laufe der Geschichte gab es sowohl Kriegs- als auch Friedenszeiten zwischen den Menschen und diesen beiden Rassen, aber die meiste Zeit kümmerten sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Das lag daran, dass bei Konflikten zwischen den Rassen interne Konflikte immer unterdrückt wurden.
Zwei ständige Bedrohungen sorgten dafür, dass die Menschen, selbst wenn sie untereinander Krieg führten, sich nie zu sehr schwächten.
Die Varn waren eine reptilienartige Rasse und konnten zwei Formen annehmen, ihre normale Form und ihre Kampfform. Ihre Kampfform hielt zwar nie lange an, sodass sie für lange Kämpfe ungeeignet waren, aber ihre Kraft war verheerend stark.
Außerdem hatten alle Varn eine starke Verbindung zur Erde und zu Mineralien, sodass ein Kampf auf dem Boden meist Selbstmord war.
Für Lex war es überraschend, dass die Menschen und die Varn eine lange Geschichte der Zusammenarbeit und Freundschaft hatten, vor allem weil es kaum Interessenkonflikte gab. Die Dinge, die für die Menschen wertvoll waren, vor allem für den Anbau, waren für die Varn meist giftig und umgekehrt.
Die Sentinels hingegen, eine humanoide Spezies, hatten oft Probleme mit den Menschen. Die Sentinels waren eine einzigartige, auf Geist basierende Spezies, was bedeutete, dass ihre Körper ihre größte Schwäche waren. Zufälligerweise waren die Ressourcen, die sie zur Stärkung ihrer Körper benötigten, auch super für den Anbau durch die Menschen geeignet.
Es gab keinen Grund, tiefergehende Gründe oder Spaltungen zu diskutieren. Alle Diskriminierung entstand aus einem Interessenkonflikt. Obwohl die beiden Rassen manchmal Handel trieben oder sogar zusammenarbeiteten, führten sie auch oft Krieg um Ressourcen, wo immer sie eine gemeinsame Grenze hatten.
Das war natürlich mittlerweile längst Geschichte. Seit dem Kraven-Krieg waren alle verzweifelt auf der Suche nach einem Sieg, was zu einer beispiellosen Zusammenarbeit zwischen den Rassen geführt hatte.
Bevor der Professor auf die jüngsten Beziehungen einging, machte er eine Pause, um auf eine bestimmte Rasse einzugehen – die Kristallrasse. Sie waren die wahren Herrscher dieses Reiches und übertrafen alle anderen Rassen bei weitem. Tatsächlich war man allgemein der Meinung, dass die Kristallrasse allein den Krieg beenden könnte, wenn sie ihn ernst nehmen würde.
Aus unbekannten Gründen begnügten sie sich jedoch damit, ihr Land zu verteidigen und sich nicht über ihre Grenzen hinaus einzumischen.
Der Professor erwähnte diese Rasse nicht, um die Studenten über sie zu informieren, denn wer wusste schon nichts über die Kristallrasse? Nein, er wollte den Studenten klar machen, dass sie ihnen niemals Vorwürfe machen oder sie der Ignoranz oder Arroganz bezichtigen sollten, weil sie die anderen Rassen nicht vor Kraven beschützten.
Er stellte sicher, dass jeder Student wusste, dass jeder, der dabei erwischt wurde, wie er die Kristallrasse beschimpfte oder beleidigte, mit lebenslanger Haft bestraft wurde.
Das machte Lex neugierig. Eine so harte Strafe sollte für ein so weit entferntes Volk nicht gerechtfertigt sein – vor allem für eines, das sich nicht für die Angelegenheiten außerhalb seiner Grenzen interessierte. Aber Lex hatte einen breiteren Blick auf die Dinge als die meisten Menschen. Er wusste genau, dass, sobald ein Kultivierender ein bestimmtes Niveau erreicht hatte, schon das bloße Reden über ihn seine Aufmerksamkeit erregen konnte.
Das erinnerte Lex an Ballom, Lorettas Vater. Er fragte sich, ob dieser Wesen noch immer erkennen konnte, wenn Lex aus einer anderen Welt an ihn dachte.
So schnell, wie ihm dieser Gedanke gekommen war, verwarf er ihn auch wieder, denn er glaubte nicht, dass Ballom dazu in der Lage war. In diesem Fall, wie in so vielen anderen, irrte sich Lex.
Ballom, der am Rande des Universums nach dem gesucht hatte, was die Aufmerksamkeit des Gastwirts auf sich gezogen hatte, spürte einen Sog aus dem Reich der Ursprünge. Das ließ ihn innehalten.
Das war seltsam, denn die Anziehungskraft, die er spürte, kam aus einem anderen Reich. Doch die einzigen Reiche, die er jemals besucht hatte, waren Garvitz, das Reich, aus dem die Teufel stammten, und das Reich der Ursprünge, in dem er sich gerade befand. Warum sollte er eine Anziehungskraft aus einem anderen Reich spüren?
Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er benutzte den goldenen Schlüssel. Ein paar Minuten später kehrte er aus dem Mitternachtsgasthaus an seinen ursprünglichen Ort zurück. Seine Vermutungen schienen sich zu bestätigen. Der Gastwirt war in eine andere Welt gereist. Das machte die Sache kompliziert, da die Herkunft des Gastwirts nun noch mysteriöser wurde. Aber war das nicht vielleicht das Beste?
Ohne ein bisschen Geheimnis wäre das Leben doch viel zu langweilig.
