Was Vernan nicht wusste, war, dass es für jede dieser Situationen eine andere Erklärung gab. Lex überlebte die Zwangsmaßnahmen des unsterblichen Kraven dank Regal Embrace. Er ließ sich von dem riesigen, bergähnlichen Kalter Flug nicht einschüchtern, weil er in seiner Herberge schon stärkere Wesen gesehen hatte und weil der riesige Schneeflocke Lex nicht mit Zwangsmaßnahmen eingeschränkt hatte.
Als Lex auf den Schüler traf, der gegen das rotöhrige Ding kämpfte, sagte ihm sein Instinkt sofort, dass er sterben würde, wenn er sich einmischte.
Ebenso war seine Einschätzung in jedem einzelnen Punkt falsch, weil niemand Lex‘ Beweggründe für sein Handeln verstehen konnte.
Schließlich hatten nur Körperkultivierende einen so ausgeprägten Instinkt, und das auch noch auf einem höheren Niveau. Aber Lex zeigte keine der wichtigsten Anzeichen eines Körperkultivierenden, während seine Geisteskultivierung sehr ausgeprägt war.
Dies war wieder einmal ein subtiler Selbstschutzmechanismus von Regal Embrace, der ihm alle Vorteile von Körperkultivierenden, Geisteskultivierenden und Seelenkultivierenden verschaffte, aber alle offensichtlichen Anzeichen dieser Vorteile blieben verborgen, bis Lex sie selbst zeigte.
Leider wusste Lex nicht, wie er sie zeigen sollte, weil er nicht mal gemerkt hatte, dass sie existierten. Zum Beispiel wurde so etwas wie Instinkt oft als Bauchgefühl beschrieben. Lex hatte unbewusst auf sein „Bauchgefühl“ gehört, aber bewusst hatte er seine Handlungen nie analysiert, um zu erkennen, was sie ausgelöst hatte.
Er hatte nicht mal gemerkt, dass es ihm viel leichter fiel, in den „Flow“ zu kommen, und nahm das einfach als gegeben hin. Vielleicht würde er mit der Zeit langsam begreifen, was Instinkte waren, und bemerken, dass er immer öfter in diesen besonderen Flow-Zustand kam, aber im Moment konzentrierte er sich auf sein Zimmer im Studentenwohnheim.
Es war verdammt winzig. Es gab ein Einzelbett, einen kleinen Schreibtisch, ein Badezimmer, und das war’s. Man muss dazu sagen, dass all das locker in Lex‘ Badezimmer im Gasthaus gepasst hätte, so eng war sein Zimmer. Wenn man bedenkt, wie groß die Akademie war und wie viel Platz sie für Freiflächen gelassen hatten, hätte sein Zimmer doch mindestens größer sein müssen als eine Gefängniszelle, oder?
Leider gab es niemanden, bei dem man sich beschweren konnte. Vernan war gegangen, nachdem er Lex abgesetzt und ihm erklärt hatte, was er zu tun hatte.
Die Akademie hatte kein Semester- oder Klassensystem, weil die Schüler das ganze Jahr über kamen und gingen. Einige mussten zu beliebigen Zeitpunkten abreisen und kamen Monate oder sogar Jahre später zurück, um ihr Studium fortzusetzen.
Stattdessen wurden die Klassen in kleinere, spezialisiertere Ränge aufgeteilt, die das ganze Jahr über immer wieder neu gebildet wurden, sodass jeder jederzeit einsteigen konnte. Wenn Lex zum Beispiel Array-Unterricht nehmen wollte, würde er im niedrigsten Rang und in der niedrigsten Division anfangen, also in der Eisenstufe 1. Der Unterricht dafür fand jeden Monat statt und dauerte einen Monat.
Wenn Lex in dieser Zeit genug gelernt hatte, um in eine höhere Klasse zu kommen, wurde er in die Stufe 2 befördert und so weiter.
Er musste bis morgen warten, um zu erfahren, wie seine Berufsbezeichnung lauten würde, und davon hing ab, welche Kurse er belegen würde. Lex duschte und warf sich ins Bett, bereit, endlich zu schlafen.
Es war kein Wunder, dass er total fertig war, schließlich hatte er während der gnadenlosen Prüfungsphase über 40 Stunden nicht geschlafen. Irgendwann, während er schlief, wurde seine Berufsbezeichnung veröffentlicht.
Laut seiner psychologischen und fachlichen Bewertung war er aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit von Nichtkooperation für keine militärische Laufbahn geeignet.
Die Einstufung funktionierte jedoch so, dass die am besten geeignete Option als höchste Empfehlung aufgeführt wurde und darunter eine Reihe von Alternativen, die normalerweise ausgeblendet waren, es sei denn, besondere Umstände hinderten den Studenten daran, der ersten Wahl zu folgen.
Während Lex also für orthodoxe militärische Aufgaben disqualifiziert worden war, wurde er irgendwo weiter unten auf der Liste für eine Gruppe namens „Red Hands“ empfohlen. Die „Red Hands“ waren zwar nicht die Elite der Elite, aber sie bestanden aus hochspezialisierten, ausgebildeten Agenten, die unabhängig voneinander in sehr unberechenbaren und extrem gefährlichen Situationen operierten.
Es war die Art von Team, die hinter die feindlichen Linien geschickt wurde, um vor der Ermordung eines hochrangigen Ziels Aufklärungsarbeit zu leisten. Die Art von Team, die in von Kraven verseuchte Gebiete geschickt wurde, um Versorgungslinien zu sabotieren und dann auf eigene Faust zu fliehen. Die Art von Team, die man in Situationen schickte, die für jeden vernünftigen Menschen zu gefährlich waren – genau das, was man von einem Mann erwartete, der dem Tod in die Augen gesehen und dann auf ihn geschossen hatte.
Es war die Art von Team, die Vernan liebte. Er kicherte, als er die Reihenfolge von Lex‘ Bezeichnungen manuell änderte. Seine Bezeichnung „Red Hands“ landete auf dem zweiten Platz und war somit praktischerweise nicht zu sehen. Seine primäre Bezeichnung wurde in „Strategischer Berater für Kampfzonen“ geändert.
Für diese Aufgabe musste Lex super ausgebildet und erfahren in verschiedenen Kampfsituationen sein und die militärischen Fähigkeiten und Operationen aller sieben Nationen des Kristallreichs genau kennen. Das lag daran, dass er als Berater für Unternehmen tätig sein würde, die in aktiven und potenziellen Kriegsgebieten operierten.
Das würde ihm die perfekte Grundlage bieten, falls er in Zukunft selbst in eine Kampfeinheit eintreten wollte, was aus unvorhergesehenen und völlig zufälligen Gründen geschehen würde, die nichts mit Vernan zu tun hatten.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, und den voraussichtlichen Werdegang von Lex während seines Aufenthalts an der Akademie durchgegangen war, schloss Vernan Lex‘ persönliche Akte und ließ sie unter seiner Verantwortung versiegeln.
Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem nächsten Schüler zu, der ihm aufgefallen war. Schließlich war Lex nur einer von vielen, die jeden Tag in die Akademie kamen. Vernan wollte sich nicht darauf beschränken, sich nur auf ihn zu konzentrieren, nein.
Die Welt stand ihm offen, und er war entschlossen, sie mit gut ausgebildeten Mördern zu füllen.
