Um mehr Antworten zu kriegen, schüttete Kain kurzerhand alles aus dem schäbigen Raumring, den er bekommen hatte. Der Ring war echt billig – weniger als 60 cm im Quadrat – aber vollgestopft bis zum Rand. Es wäre einfacher gewesen, den Inhalt einfach auf den Boden zu schütten und das Chaos wieder zu ordnen.
Das meiste davon war irrelevant: Kleidung zum Wechseln, ein paar Münzen, ein halb aufgegessener Snackriegel, der längst versteinert war, mehrere Stifte ohne Tinte und ein kaputtes Handy.
Er schob eine weiche, matschige „Trainingspuppe“ beiseite, die wie eine vollbusige Elfe aussah – angeblich für „Grappling-Übungen“, wie auf dem Etikett stand. An verschiedenen Stellen ihres Körpers klebte ein verdächtiges, nicht identifizierbares Gel, und Kain nahm sich vor, sie später zu verbrennen.
„Was war noch mal der Job von diesem Typen?“, murmelte Kain.
Er schob einen Haufen zerknitterter Kleidungsstücke beiseite – die meisten davon fleckig, ein Hemd trug noch das Logo des Black Vine Consortium – und fand ein dickes Notizbuch. Der Einband war verbogen, die Ecken ausgefranst. Auf der Vorderseite stand in verschnörkelter Handschrift der Titel:
„Dieser Beast Tamer ist ein wenig seltsam.“
Kain starrte das Buch an.
„… Hm.“
Er schlug es auf und überflog die erste Seite. Es war kein Tagebuch. Es war … das erste Kapitel eines Amateurromans.
Kain kniff die Augen zusammen. „… Okay.“
Er warf das Notizbuch kurzerhand quer durch den Raum, wo es mit einem leisen Plumps neben der „Trainingspuppe“ landete.
Schließlich fand er etwas Nützlicheres, das unter einem Stapel Quittungen und einem Ersatzunterhemd begraben war. Ein gebundenes, mit Leder umschlagenes Tagebuch. Der Einband knackte leise, als er es öffnete, die Seiten waren vergilbt und abgenutzt und mit dicht gedrängter Handschrift gefüllt.
„Das könnte nützlich sein.“
Serena stellte sich neben ihn und schaute ihm über die Schulter, während er versuchte, die kaum lesbare Schrift zu entziffern. Nicht, dass ihm das plötzliche Gefühl von etwas Weichem und Warmem an seinem Rücken gerade besonders half, sich zu konzentrieren …
Die Einträge begannen ganz banal. Notizen über den Tagesablauf, wie langweilig seine Schichten waren, kleine Beschwerden über Kollegen und eine tragische, immer wiederkehrende Klage darüber, dass er sich nicht traute, das Mädchen anzusprechen, das in dem Sandwichladen die Straße runter arbeitete.
Aber zwischen den eher belanglosen Details gab es auch scharfe Wendungen – Erwähnungen von seltsamen Lieferungen, die spät in der Nacht ankamen, unbeschrifteten Kisten, die mit seltsamen Siegeln verschlossen waren, gelegentlichen Begegnungen mit Leuten, die weder zum Black Vine Consortium noch zum Golden Brew Syndicate zu gehören schienen … oder zu irgendeinem Unternehmen, das dieser Typ kannte. Und doch waren die Chefs seines Chefs diesen mysteriösen Leuten gegenüber so respektvoll.
„Hier“, sagte Kain und tippte auf eine Seite in der Mitte.
„Heute habe ich wieder einen Blick auf die Anzugträger erhascht. Das war schon das dritte Mal in diesem Monat. Sie wurden auch nicht von den üblichen Black-Vine-Führungskräften begrüßt. Der Vizepräsident kam persönlich, um sie zu begrüßen. Ich hatte den Vizepräsidenten noch nie zuvor gesehen!“
„Die Leute, die er begrüßt hat … Ich weiß nicht, wer sie sind. Es waren drei. Sie haben mir ein komisches Gefühl gegeben. Vor allem die Frau. Hast du jemals jemanden angesehen und das Gefühl gehabt, dass du nur eine Nebenrolle in seiner Geschichte spielst? Als ob du in dem Moment, in dem er dich ansieht, verschwinden könntest? So ein Gefühl. Sie war wunderschön. Zu schön. Fast unnatürlich. Als ob jemand jedes Detail an ihr handgefertigt hätte.“
Serena las den Absatz schweigend. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
„Ich wollte gar nicht dort sein. Ich war auf dem Weg zum Hinterhaus, um Putzzeug zu holen, weil mein mieser Abteilungschef zu geizig ist, um eine Putzfrau einzustellen, und die Tür war ausnahmsweise mal nicht verschlossen. Ich glaube, sie haben mich nicht bemerkt. Ich hoffe, sie haben mich nicht bemerkt. Am nächsten Tag war die Tür zugeschweißt. Kein Scherz. Der ganze Flur wurde umgebaut.
Zum Glück kam niemand, um mich zu suchen und mit mir zu reden …“
Kain blätterte um.
Es gab noch mehr Einträge, aber diese erste Begegnung hatte den Mann sichtlich verfolgt. Er machte sich Notizen, Skizzen und sogar einen groben Versuch, das Gesicht der schönen Frau zu zeichnen – allerdings war es eher eine vage Silhouette als etwas Konkretes. Ein paar Sätze fielen besonders auf:
„Sie hatte dunkelviolette Haare und Augen.“
„Ihr Lächeln reichte nicht bis zu ihren Augen.“
„Alle anderen wurden sofort still und hörten zu, wenn sie sprach, sogar die, die so taten, als hätten sie das Sagen.“
Er blätterte weiter durch das Tagebuch und überflog die Seiten.
Schließlich kam er zu einer Seite, aus der ein Polaroidfoto herausfiel – ein kurzer Blick genügte Kain, um zu erkennen, dass es sich um eine Frau handelte.
Es schien, als sei der Arbeiter der Black Vine, Donis, nach dieser ersten Begegnung mit der mysteriösen Frau so besessen gewesen, dass er es riskiert hatte, ein Foto von ihr zu machen.
Kain bückte sich, um das heruntergefallene Foto aufzuheben, und erstarrte vor Schreck.
Serena bemerkte seine plötzliche Regungslosigkeit.
„Was ist los?“, fragte sie verwirrt über seine ungewöhnliche Reaktion.
Kain antwortete nicht.
Er starrte nur weiter.
Seine Finger umklammerten das Foto so fest, dass sich die Ecken leicht wellten. Sein Gesicht war unlesbar – nicht gerade fassungslos, sondern wie gebannt, als hätte das Bild seine Gedanken an einen anderen Ort gezogen. Serena neigte den Kopf und beobachtete ihn aufmerksam. Als keine Antwort kam, näherte sie sich, um zu sehen, was er in der Hand hielt.
Es war eine Frau, die nicht wusste, dass sie fotografiert wurde.
Dunkelviolettes Haar fiel ihr in lockeren Wellen über die Schultern, und ihre Augen, ebenfalls violett, schienen direkt durch das Foto hindurchzublicken. Obwohl das Bild körnig war, hatte die Komposition eine fast unheimliche Präzision. Ihre Gesichtszüge waren zart, und sie war wirklich eine der wenigen Menschen, die mit Serenas Aussehen mithalten konnten.
Als Serena sah, dass es das Bild dieser Frau war, das ihn so faszinierte, fragte sie ihn nicht weiter.
Aber es wurde kälter im Raum.
Die Luft fühlte sich mit jeder Sekunde schwerer an. Eine durchdringende Kälte erfüllte den Raum, und hätte ein Glas Wasser neben ihr gestanden, wäre es wahrscheinlich spontan gefroren.
Leider bemerkte Kain das immer noch nicht. Er war wie gebannt von dem Foto.
Aber nicht, weil die Frau so umwerfend schön war – was sie zwar war.
Nicht, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte – das tat er nicht.
Nicht, weil er wie Donis ihrem Bann verfallen war – dagegen war er immun.
Es war Faszination, aber eine andere Art – still, aufkeimend, ungläubig.
Denn obwohl die Erinnerung nur vage war … obwohl er sicher war, dass es nicht sein konnte …
Seine Augen weiteten sich langsam, Verwirrung breitete sich in seinem Gesicht aus, als er ein kaum hörbares Murmeln von sich gab:
„… Schwester?“