„Du kannst diesen Ort später bewundern, wir müssen weiter.“ Als Song Liu das hörte, atmete sie tief durch, fasste sich wieder und verließ mit Amon an der Spitze der Gruppe den Garten.
„Warum teleportieren wir uns nicht direkt hierhin?“, fragte Song Liu, während sie gingen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Amon bösartig grinste. Der Blick ließ sie erschauern, sie spürte, dass etwas nicht stimmte.
„Wer hat gesagt, dass es hier drin kein Teleportationsportal gibt?“, sagte er mit einem Grinsen. Die Kälte, die er zuvor gezeigt hatte, war etwas abgeklungen, was sie erneut verwirrte, aber was Chen Ming als Nächstes zu ihr sagte, ließ das Mädchen ein wenig zittern.
„Die Höhlenöffnung war nur ein falscher Eingang. Wenn jemand, der nicht zum Kult gehört oder nicht vollständig getauft ist, versucht, hier einzudringen, wird er ausgelöscht, sobald er die Tore der Höhle berührt.“
„Das war also ein Test?“ Überraschenderweise beruhigte sich Song Liu schnell und schien von dem, was sie gehört hatte, nicht beeindruckt zu sein.
„Haha! Natürlich war es das. Hast du nicht das verkohlte Gras vor den Toren gesehen?“ Song Liu sagte nichts und schwieg, während sie ihre Aufmerksamkeit auf die Schönheit der Umgebung richtete. Aber aus irgendeinem Grund erschien ihr der Ort nicht mehr so schön wie zuvor. Als er ihr Schweigen bemerkte, sagte Amon auch nichts mehr.
Bald erreichten sie den Weg, der zum Schloss führte. Zu beiden Seiten standen kunstvoll geformte Büsche, zwischen denen Sitzgelegenheiten waren. Dort entdeckte Song Liu sehr lebensechte Statuen von Menschen mit spitzen Ohren.
Alle Statuen hatten einen entsetzten Gesichtsausdruck, ihre Augen schrien vor Angst und Schmerz.
Obwohl neugierig, blieb Song Liu still und wandte ihren Blick ab. Mit jedem Schritt verlor ihr Blick seine Lebendigkeit und wurde kalt.
Bald standen die drei vor dem Schloss. Die Mauern des Schlosses schimmerten perlmuttfarben, und die Tore standen offen, als würden sie sie willkommen heißen. Aus der Nähe konnte sie erkennen, dass die zahlreichen Gravuren auf dem Schloss keine Muster waren, sondern Bilder, die verschiedene Geschichten erzählten.
Das erste Bild, das sie sah, war das größte von allen und zeigte einen sehr hohen Baum. Vor dem Baum standen mehrere Menschen mit langen Ohren, die sich vor ihm verneigten, als würden sie ihn anbeten.
Bevor sie sich auf das Bild konzentrieren konnte, lenkte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit ab. Aus dem Augenwinkel sah sie etwas in bunten Farben flirren. Als sie hinsah, erkannte sie, dass es sich um einen wunderschönen Schmetterling handelte.
Das handflächengroße Ding sah vielleicht nicht so bezaubernd aus wie der Space Burning Butterfly, aber es war nicht weit davon entfernt. Sie nahm ihren Blick erst von dem Schmetterling, als ihre Füße die Eingangstür des Schlosses überquerten und sie die Lobby betrat.
Sobald sie eintraten, sahen sie eine riesige Treppe, die zum nächsten Stockwerk des Schlosses führte. Auf dem Stockwerk, auf dem sie sich gerade befanden, gab es nichts außer einigen Dekorationen und einem riesigen Teppich, der zu der Y-förmigen Treppe führte.
Song Liu schaute sich im Flur um und ihr Blick wanderte unbewusst – oder vielleicht auch bewusst – in Richtung der Dunkelheit unter der Treppe. Sie warf nur einen kurzen Blick auf diese Stelle, bevor sie zu Amon schaute und darauf wartete, dass er ihr den Weg wies.
Amon blieb auch kurz im Flur stehen. Er nickte Chen Ming kurz zu. „Du kannst hierbleiben, wir gehen schon mal vor.“
Chen Ming verbeugte sich leicht vor den beiden und trat beiseite. Amon wandte seine Aufmerksamkeit der jungen Dame neben ihm zu und fügte hinzu: „Von jetzt an bleibst du dicht bei mir. Nicht weggehen.“
Mit diesen Worten machte er sich auf den Weg zur Treppe. Das Mädchen folgte ihm gehorsam. Chen Ming sah ihnen nach, wie sie zum nächsten Stockwerk gingen, dann wandte er sich ab und ging in die Dunkelheit unter der Treppe.
Im nächsten Moment blitzten zwei weiße Augen in der Dunkelheit auf und funkelten unheimlich.
Auch zwei Eckzähne blitzten auf, was den Anblick so schrecklich machte, als käme er direkt aus einem Albtraum.
„Wer ist diese junge Dame, dass sie das Privileg hat, neben General Amon zu gehen, am Leben zu bleiben und sogar die Ehre hat, an einer so wichtigen Besprechung teilzunehmen?“, fragte eine heisere Stimme, als Chen Ming auf sie zuging.
„Sie ist etwas Besonderes“, antwortete der Mann. „So besonders, dass unser General um sein Leben kämpfen würde, um sie zu bekommen.“
„Oh, so besonders ist sie also?“, versuchte die Stimme amüsiert zu klingen, wirkte dabei aber nur gruselig. „Kein Wunder, dass sie mich in diesem Zustand gefunden hat.“
Die Dunkelheit schien zu beben, als schwere Schritte zu hören waren. Chen Ming blieb stehen, als die Umrisse der Gestalt, die sich im Schatten verbarg, deutlicher wurden.
„Ich würde gerne alles über sie erfahren“, fügte die Stimme hinzu. Aus der Dunkelheit tauchte eine knochige Hand auf, wie die einer sehr alten Person, die kurz vor dem Tod stand. Die Fingernägel waren so groß wie Daumen und die Hand stieß Chen Ming gegen die Brust.
Chen Ming stand unerschrocken da, stieß aber einen resignierten Seufzer aus. Der Mann schüttelte den Kopf und ging selbst in die Dunkelheit hinein.
…
Der Flur im zweiten Stock war anders als der im ersten Stock. Er verlief in einer langen geraden Linie und bot auf der einen Seite einen wunderschönen Blick auf den Garten und auf der anderen Seite eine Reihe von Zimmern.
Song Liu konnte ihre eigenen Schritte und die von Amon hören, als sie den stillen Gang entlanggingen. Der Weg war länger, als sie gedacht hatte. Amon änderte ständig die Richtung, während er sie führte, und sie gingen durch verschiedene Flure und einige versteckte Räume.
Als sie schließlich stehen blieben, hatte Song Liu keine Ahnung mehr, wie viele verschiedene Szenen sie auf ihrem Weg gesehen hatte oder wo sie sich überhaupt befanden. Sie hatte das Gefühl, dass etwas versuchte, ihre Orientierung zu verwirren, aber es hatte kaum eine Wirkung auf sie.
Als sie stehen blieben, tauchte vor ihnen ein riesiges Tor auf. Das Tor sah anders aus als die, die sie auf dem Weg hierher gesehen hatte. Amon warf ihr noch einen Blick zu, bevor er die Hand hob, um die Tür aufzuschieben.
