Der Gang mündet schließlich in eine weitläufige Höhle, die von schwach leuchtendem Moos schwach beleuchtet wird. Steinplattformen ragen in ungleichen Höhen empor und sind durch Seilbrücken und schmale, in die Wände gehauene Pfade miteinander verbunden. Dutzende von Umbral-Gestalten bewegen sich umher – einige schärfen Waffen, andere kümmern sich um Feuer oder stapeln Vorräte.
In dem Moment, in dem Grell und Tarven ins Freie treten, ändert sich die Atmosphäre. Sie halten mitten im Gespräch inne und drehen ihre Köpfe scharf zur Seite. Die Spannung in der Luft löst sich, als sie einander erkennen.
„Lord Grell!“, ruft einer und neigt respektvoll den Kopf.
„Lord Tarven“, grüßt ein anderer mit der Faust vor der Brust.
Mehrere andere folgen ihrem Beispiel und murmeln Begrüßungen mit deutlichem Respekt. Trotz ihrer rauen Erscheinung verhalten sich diese Umbral diszipliniert.
Alix bemerkt die Verwirrung in ihren Augen, als sie zu ihm hinüberblicken – Grixx und Berko. Ein Raunen geht durch die Menge.
„Wer sind die?“, murmelt jemand.
„Das müssen die sein, die Captain Vyrins Truppe gefangen genommen haben“, vermutet ein anderer.
„Vorsicht“, warnt jemand anderes. „Wenn die Lords sie hierhergebracht haben, hat das einen Grund.“
Niemand wagt es, Grell oder Tarven direkt herauszufordern, aber der Verdacht ist offensichtlich.
Während sie weitergehen, beobachtet Alix leise die Siedlung. Die Behausungen der Umbral sind direkt in die Höhlenwände gehauen und mit Knochen, dunklem Eisen und dick gewebten Ranken verstärkt.
Trotz ihrer primitiven Bauweise strahlen sie eine gewisse Struktur aus – eine Kultur, die von Disziplin und Stärke geprägt ist.
Endlich erreichen sie die zerklüftete Festung am anderen Ende der Höhle. Zwei Wachen erstarren beim Anblick von Alix und Berko, senken jedoch ihre Dolche, als Grell vortritt.
„Wir sind hier, um den Häuptling zu sprechen“, sagt Grell mit fester Stimme.
Die Wachen tauschen nervöse Blicke aus. „Sie ist … nicht in bester Stimmung“, murmelt einer.
„Wann ist sie das schon mal?“, grummelt Tarven.
Alix weiß bereits, dass ihr Häuptling eine Frau ist, als sie eintreten, aber ihr Anblick überrascht ihn dennoch. Sie sieht nicht so hart und kampferprobt aus, wie er erwartet hatte – stattdessen hat sie scharfe Gesichtszüge und durchdringende Augen.
Sie sitzt über einen Tisch gebeugt, der mit verschiedenen getrockneten Kräutern, Fläschchen mit einer dicken Flüssigkeit und empfindlichen Glasinstrumenten bedeckt ist. Seltsame Dämpfe schweben in der Luft und vermischen sich zu einem beißenden, bitteren Geruch. Ihre dunkle, chitinartige Gestalt ist schlank, ihre Sinnesorgane bewegen sich leicht, während sie mit geübten Handgriffen die Sammlung durchsucht.
Ohne aufzublicken, spricht sie.
„Also, was ist passiert? Hast du Vyrin zurückgebracht?“ Ihre Stimme ist sanft, aber bestimmt.
Vyrin tritt vor und senkt leicht den Kopf. „Ich bin zurück, Häuptling.“
Die Hände der Häuptlingin halten über einem Bündel getrockneter Wurzeln inne. Langsam dreht sie sich zu ihnen um, und in dem Moment, in dem ihr Blick auf Alix und Berko fällt, spannt sich ihr ganzer Körper an.
Ihre Sinnesgruben flammen auf, während sie den Anblick der drei Fremden in ihrem Reich verarbeitet. Die Atmosphäre im Raum verändert sich augenblicklich – was zuvor eine beiläufige Frage war, wird kalt.
Ihre Stimme ist diesmal schärfer. „Wer sind sie?“
Grell antwortet, bevor Alix etwas sagen kann. „Fremde … aber keine Feinde.“
Die Häuptlingin neigt leicht den Kopf und tippt mit ihren krallenartigen Fingern auf den Holztisch. „Du hast Fremde hierher gebracht“, wiederholt sie, als wolle sie prüfen, wie sich diese Worte anhören. „In unser Heiligtum.“ Ihr Blick huscht zu Tarven. „Und du hast das zugelassen?“
Tarven presst die Kiefer aufeinander, sieht aber nicht weg. „Wir hatten keine Wahl.“
Die Häuptlingin atmet tief aus und tritt einen Schritt vor. Im Gegensatz zu den Umbrals draußen trägt sie keine sichtbaren Waffen, keine Rüstung – nur einen einfachen, zerfetzten Umhang, der über ihre Schultern geworfen ist. Und doch ist die Wucht ihrer Präsenz unbestreitbar.
Sie bleibt ein paar Schritte vor Alix stehen und neigt leicht den Kopf. „Du riechst nicht wie Beute“, murmelt sie. „Und du bewegst dich nicht wie ein Dummkopf.“
Alix hält ihrem Blick stand. „Ich wäre nicht hier, wenn ich beides wäre.“
Es folgt eine langsame, bedächtige Stille. Dann lacht die Häuptlingin unerwartet.
„Interessant“, sagt sie.
„Sag mir, Fremder … was genau willst du von den Umbral?“
Grell tritt vor, bevor Alix antworten kann, seine Stimme ruhig, aber bestimmt.
„Seine Majestät will uns alle in sein Königreich bringen“, sagt er. „Wir beide haben ihm bereits unsere Treue geschworen.“
Die Finger der Häuptlingin liegen immer noch auf dem Tisch. Ihre Sinnesorgane flackern leicht, während sie seine Worte verarbeitet. Dann atmet sie langsam und bedächtig aus.
„Du sprichst, als wäre es bereits beschlossen“, murmelt sie mit unlesbarer Stimme. „Und doch kann ich mich nicht erinnern, diese Entscheidung für mein Volk getroffen zu haben.“
Tarven verschränkt die Arme, seine Haltung ist angespannt, aber unerschütterlich. „Wir bitten nicht um Erlaubnis, Häuptling. Wir brauchen das.“
Der Blick der Häuptlingin schießt zu ihm, scharf wie eine Klinge. „Du maßt dir an, mir zu sagen, was unser Volk braucht?“
Grell zögert nicht. „Ja.“
Stille legt sich wie dichter Nebel über den Raum. Die Spannung zwischen ihnen ist greifbar. Die Häuptlingin richtet sich langsam auf und mustert die beiden, als sähe sie sie zum ersten Mal.
Dann richtet sie ihren Blick auf Alix. „Und du“, sagt sie. „König der Oberflächenwelt, richtig?“
Alix nickt. „Das bin ich.“
Ihre Finger klopfen wieder nachdenklich auf den Tisch. „Du kommst hierher und bietest an, mein Volk mitzunehmen. Uns zu entwurzeln, uns unter deine Herrschaft zu stellen.“ Sie neigt den Kopf. „Und warum sollte ich das zulassen?“
Alix hält ihrem Blick ohne zu zögern stand. „Weil ihr unter mir Höhen erreichen werdet, von denen ihr nicht einmal zu träumen gewagt habt.“
Die Häuptlingin lacht leise, aber es ist kein Lachen in ihrer Stimme. „Das sind mutige Worte. Aber Macht allein reicht nicht aus, um unsere Loyalität zu verdienen.“
Alix grinst. „Dann sag mir – was reicht aus?“
Anstatt sofort zu antworten, mustert die Häuptlingin ihn. Ihre Sinnesorgane flackern subtil und nehmen mehr als nur seine Worte wahr. Dann verschränkt sie die Arme. „Fang mit deinem Namen an, Oberflächenkönig.“
„Alix.“ Seine Stimme ist ruhig und fest. „Und du?“
Sie neigt leicht den Kopf. „Zyra.“
Alix nickt, als würde er über etwas nachdenken. Dann spricht er erneut, sein Tonfall verrät, dass er etwas weiß. „Bist du nicht bereits auf dem Gipfel der Stufe 4 als Magier? Und obendrein noch ein Alchemist der Stufe 3?“
Zyra versteift sich, ihre scharfen Gesichtszüge verraten einen Anflug von Überraschung. Alix fährt fort, sein Blick unerschütterlich.
„Wenn man bedenkt, dass du es ganz allein bis zur Stufe 3 in Alchemie geschafft hast, ist das beeindruckend. Mehr als beeindruckend, wirklich.“
Zum ersten Mal scheint sie wirklich überrascht zu sein. Ihre krallenartigen Finger klopfen in einem langsamen, nachdenklichen Rhythmus gegen die Holzoberfläche. „Das kannst du sehen?“
Anstatt zu antworten, hebt Alix die Hand. Plötzlich materialisiert sich mit einem schwachen Schimmer ein großes, alt aussehendes Buch in seiner Hand – ein Zauberbuch der Stufe 5. Die Luft um ihn herum summt vor latenter Magie, seine Präsenz ist unbestreitbar.
Als ob das noch nicht genug wäre, erscheint ein weiteres Objekt – eine zarte Schriftrolle, die mit dunkler Seide zusammengebunden ist. Ein Alchemie-Rezept der Stufe 4.
Zyra hält den Atem an. Ihre Sinnesorgane sind auf Hochtouren, als sie die Gegenstände fixiert, ihre Augen leuchten, als würde sie den wertvollsten Schatz betrachten, den sie je gesehen hat.
Dann, zu Alix‘ Überraschung, wirft sie den Kopf zurück und lacht – ein tiefes, echtes Lachen, das durch den Raum hallt.
„Hahaha! Eure Majestät“, sagt sie und grinst jetzt, „Ihr habt mir nicht gesagt, dass Ihr so großzügig seid.“ Sie tritt vor, unfähig, ihre Aufregung zu verbergen, während sie das Zauberbuch aus der Entfernung betrachtet. „Mit solchen Geschenken glaubt Ihr wirklich, dass jemand aus meinem Stamm sich weigern würde, Euch zu dienen?“
Sie sieht wieder zu ihm auf, aber diesmal hat sich ihr Gesichtsausdruck verändert – es ist nicht mehr nur Interesse, sondern eher Bewunderung.
„Unser Stamm würde sich geehrt fühlen, einem so mächtigen Wesen wie dir zu folgen.“
Alix denkt bei sich: Das war einfacher als erwartet. Magier sind wirklich wissbegierig, und da Zyra auch Alchemistin ist, ist ihre Reaktion völlig verständlich.
Zyra richtet sich auf, ihre gesamte Haltung verändert sich. Jetzt gibt es kein Zögern mehr, nur noch Entschlossenheit. Sie tritt beiseite und deutet mit unerwarteter Ehrerbietung auf den Eingang der Höhle. „Eure Majestät, erlaubt mir, Euch unserem Volk vorzustellen.“
Zyra führt Alix nach draußen, ihre Bewegungen sind jetzt zielstrebig, als hätte sie die Veränderung in der Führung bereits akzeptiert. Als sie die Haupthöhle betreten, beginnt ein Raunen.
„Warum ist die Häuptlingin so respektvoll gegenüber diesem Fremden?“
„Was ist los?“
Zyra lässt keinen Raum für Zweifel. Sie geht vorwärts, ihre Stimme hallt mit absoluter Autorität durch die Höhle. „Versammelt alle. Sofort.“
Die Umbral stellen keine Fragen. Schatten huschen vorbei, als Attentäter davonflitzen, um den Befehl weiterzugeben. Innerhalb weniger Minuten tauchen Hunderte von Gestalten aus den Tunneln und Behausungen auf und bilden eine riesige Menschenmenge vor der Festung. Es sind mindestens tausend Umbral hier, alle in dunkle Rüstungen oder leichte, flexible Gewänder gekleidet, die sich für heimliche Missionen eignen. Ihre leuchtenden Augen huschen zwischen Zyra und Alix hin und her, unsicher, aber neugierig.
Alix beobachtet sie aufmerksam. Die Hälfte von ihnen sind Attentäter, die darauf trainiert sind, aus dem Schatten zuzuschlagen. Die andere Hälfte besteht aus Ältesten, Nichtkämpfern und Kindern, aber selbst sie bewegen sich mit der stillen Anmut ihrer Artgenossen. Diese Leute wurden als Killer geboren, doch hier herrscht Disziplin, eine Struktur.
Zyra tritt vor und hebt eine Hand. „Hört gut zu, meine Verwandten! Heute beginnt eine neue Zukunft!“
Es wird still. Alle Umbral konzentrieren sich ganz auf sie.
„Ich habe beschlossen, mich, Grell, Tarven und euch alle Seiner Majestät König Alix zu verschreiben“, erklärt Zyra mit fester Stimme. „Er ist stark. Großzügig. Und er bietet uns eine Zukunft außerhalb dieser Höhlen. Eine Zukunft voller Wachstum, Macht und Wissen.“
Eine Welle der Unsicherheit geht durch die Menge. Einige tauschen Blicke aus, einige nicken subtil, andere bleiben angespannt. Dann tritt ein Umbral vor – ein Mann mit scharfen Augen und einer Narbe auf der Wange. Seine Stimme ist ruhig, aber von Zweifel durchzogen.
„Häuptling Zyra, wir alle respektieren dich.
Niemand hat mehr dafür getan, uns vor den Bestien da draußen zu schützen, vor den Gefahren, die uns auslöschen würden. Aber …“ Er zögert einen Moment, bevor er fortfährt. „Ist es wirklich in Ordnung, uns in die Hände eines anderen zu begeben? Die Freiheit aufzugeben, für die wir so hart gekämpft haben?“
Auf seine Worte folgt Stille.
Alix lacht leise, ein tiefes, amüsiertes Lachen, das durch die Höhle hallt. Er tritt vor, jede Bewegung selbstbewusst und kontrolliert.