Ihr Blick fällt auf einen gefallenen Banditen, dessen Schwert noch immer in seiner erstarrten Hand liegt. Ein praktischer Gedanke kommt ihr in den Sinn: Warum nicht ihre Waffen nehmen? Sie duckt sich neben die Leiche und greift nach dem Schwertgriff.
Es bewegt sich nicht.
Sorin runzelt die Stirn. Sie greift fester zu und zieht stärker, aber die Waffe bleibt stecken, als wäre sie mit dem Boden verschweißt.
„Was …?“, murmelt sie leise.
Sie versucht es an einer anderen Leiche – diese hatte einen Dolch am Gürtel. Aber egal, wie sehr sie auch zieht, er lässt sich nicht lösen. Es ist, als wären die Waffen nur Requisiten, Teil der Umgebung, und nicht etwas, das sie an sich nehmen kann.
Eine kalte Erkenntnis überkommt sie. „Ich kann sie also nicht plündern? Dieser Ort ist seltsam?“
Ihre Lippen pressen sich zu einer schmalen Linie zusammen. Sie versteht die Logik dahinter nicht, aber herumzustehen bringt sie auch nicht weiter. Sie schiebt den Gedanken beiseite und geht tiefer in die Höhle hinein.
Die Luft wird schwerer, getrübt vom Gestank nach Schweiß, Alkohol und etwas Verfaultem. Die flackernden Fackeln an den Wänden verdrängen die Dunkelheit kaum und werfen unheimliche, tanzende Schatten.
Dann hört sie es – lautes Gelächter.
Sie verlangsamt ihre Schritte und drückt sich gegen die raue Steinwand, während sie sich der Geräuschquelle nähert. Sie späht um die Ecke und nimmt mit ihren scharfen Augen die Szene vor ihr wahr.
Vor ihr öffnet sich eine große Höhle, die breiter ist als alle bisherigen Tunnel. In ihrer Mitte sitzt eine Gestalt auf einem provisorischen Thron aus Holz und Knochen. Seine Muskeln wölben sich unter seinem zerlumpten Umhang, Narben durchziehen seine bloßen Arme.
Neben ihm liegt ein großes Schwert, dessen Metall im schwachen Licht matt glänzt.
Um ihn herum stehen weitere Banditen – einige liegen auf Holzbanken, andere trinken direkt aus Fässern mit gestohlenem Bier. Eine Handvoll Frauen stehen in der Nähe, füllen Becher nach und kümmern sich um alle Wünsche des Anführers.
Sorin umklammert ihren Dolch fester.
Ihre goldenen Augen flackern und analysieren die Szene. Die Art, wie die anderen ihn ansehen, wie niemand es wagt, in seiner Gegenwart zu laut zu sprechen – es gibt keinen Zweifel. Dieser Mann hat hier das Sagen.
Sorin atmet ruhig und drückt sich tiefer in den Schatten, den Blick auf den Anführer der Banditen geheftet. Aus der Nähe wirkt er noch größer, seine Präsenz strahlt eine ursprüngliche Dominanz aus, die die anderen Banditen unbewusst vor ihm zurückweichen lässt.
Gerade als sie sich anschickt, sich zu bewegen, dreht er plötzlich den Kopf in ihre Richtung.
Ein langsames, zahniges Grinsen breitet sich auf seinem vernarbten Gesicht aus.
„Ohh?“ Seine tiefe, raue Stimme hallt durch die Höhle. „Sieht so aus, als hätte sich eine kleine Maus im Dunkeln versteckt.“
Sorins Atem stockt. Unmöglich.
Ihre Tarnung ist perfekt. Sie hat keinen Mucks von sich gegeben, und keiner der anderen Banditen hat sie bemerkt. Wie hat er mich gesehen?
Als sie merkt, dass sie entdeckt wurde, tritt sie vor und lässt die Schatten von sich abfallen. Ihr Blick bleibt auf den Anführer geheftet, sie sucht ihn nach einem Hinweis ab, wie er sie entdeckt hat.
Der Banditenanführer beugt sich auf seinem Thron vor, sein Grinsen wird breiter.
„Obwohl ich deine Gestalt unter dieser Robe nicht sehen kann“, sagt er und atmet tief ein, „kann ich den köstlichen Duft riechen, den dein Körper verströmt.“
Sorins Miene verhärtet sich, aber sie bleibt still.
Die vier Banditen zucken überrascht zusammen. Einer von ihnen, ein ungepflegter Mann mit einem abgebrochenen Zahn, runzelt die Stirn.
„Boss, bist du sicher, dass es eine Frau ist?“, fragt er skeptisch.
Der Anführer kichert und lässt seine Zunge über die Zähne gleiten. „Oh, da bin ich mir sicher.“ Er hebt träge die Hand und macht eine Geste nach vorne. „Geht und fangt sie. Ich werde mich zuerst satt sehen – dann könnt ihr anderen euch abwechseln.“
Die Banditen grinsen sich erwartungsvoll an, bevor sie ihre gierigen Blicke auf Sorin richten.
Aber Sorin zuckt nicht mit der Wimper.
Wenn überhaupt, neigt sie leicht den Kopf, ihre Lippen verziehen sich zu einem kalten Lächeln. Etwas, das ihnen einen Schauer über den Rücken jagt, noch bevor sie den ersten Schritt machen.
Ein leises Kichern entweicht Sorins Lippen, kaum mehr als ein Hauch.
„Das ist gut“, sinniert sie. „Dieser Mensch ist zu übermütig.“
Ihre goldenen Augen huschen über die vier Untergebenen, die auf sie zukommen. Sie schätzt sofort ihre Stärke ein – Krieger der Stufe 2 (Level 200+).
Sie ist eine Assassinin der Stufe 3 (Level 300+). Eine Jägerin der Dunkelheit.
In dem Moment, in dem sie auf sie zukommen, haben sie bereits verloren.
Der erste Bandit stürzt sich auf sie, seine Klinge glänzt im schwachen Schein der Fackeln. Seine Bewegungen sind schnell – für einen Menschen – aber vorhersehbar. Sorin bewegt sich erst in letzter Sekunde, ihr Körper weicht gerade so weit aus, dass der Angriff ins Leere geht.
Dann schlägt sie zu.
Eine einzige Drehung ihres Handgelenks. Ein silberner Blitz.
Der Bandit schnappt nach Luft, seine Augen weiten sich, als sich seine Kehle zu einem blutroten Lächeln öffnet. Er taumelt zurück, greift sich an den Hals und gurgelt, während Blut zwischen seinen Fingern heraustropft.
Der zweite reagiert sofort und schwingt eine schwere Axt in ihre Richtung. Sorin weicht zur Seite aus, ihr Umhang flattert, als die Axt mit einem ohrenbetäubenden Krachen auf den Steinboden schlägt. Bevor der Angreifer sich erholen kann, sticht sie zu – ihr Dolch versinkt zwischen seiner Schulter und seinem Hals.
Sein Körper versteift sich, sein Atem stockt.
Sorin reißt die Klinge heraus, dreht sich wie ein Geist um ihn herum und schlägt ihm in die ungeschützte Seite. Der Mann bricht zusammen, ein rauer Schrei entweicht seinen Lippen, bevor er zu Boden sinkt.
Die beiden anderen zögern.
„Scheiße! Sie ist zu schnell!“, zischt einer von ihnen.
„Umzingelt sie!“, ruft der andere.
Sie stürmen gleichzeitig auf sie zu, einer von links, der andere von rechts.
Sorin lässt sie kommen.
In dem Moment, in dem sie in ihre Reichweite kommen, verschwindet sie.
Für einen Herzschlag ist nichts zu sehen. Kein Geräusch. Keine Präsenz.
Dann –
Eine verschwommene Gestalt.
Sorin taucht hinter dem Mann auf der rechten Seite wieder auf. Er hat kaum Zeit, die Augen zu öffnen, bevor ihr Dolch seine Schädelbasis durchbohrt. Er sinkt sofort zu Boden, sein Körper ist schlaff, bevor er überhaupt den Schmerz registrieren kann.
Der letzte Bandit taumelt vor Schreck zurück.
„Monster …!“, keucht er mit zitternden Händen. Er dreht sich auf dem Absatz um, bereit zur Flucht –
Eine kalte Hand packt ihn am Hinterkopf.
Sorin reißt ihn zu Boden, ihr Knie schlägt mit einem widerlichen Knacken auf sein Gesicht. Knochen brechen. Blut spritzt.
Er sinkt vor ihr zusammen und stöhnt schwach, bevor die Dunkelheit ihn umhüllt.