Alix beobachtet Tolga, dessen Gesichtsausdruck nicht zu deuten ist. Der Attentäter bleibt angespannt, sein Blick huscht zwischen Alix und den vier knienden Gestalten hin und her.
Dann spricht Alix mit ruhiger Stimme: „Ich bin nicht hier, um dich aufzuhalten. Ich werde dich sogar unterstützen.“
Tolga blinzelt überrascht. „Was?“
Nyssara schaut auf und verengt leicht die Augen. „Bist du dir sicher, Eure Majestät?“
Alix hält ihrem Blick stand. „Natürlich. Ihr seid jetzt meine Untertanen. Wenn ihr Rache wollt, dann werde ich euch dabei helfen.“
Es folgt eine bedrückende Stille. Die Worte sinken ein.
Tolga beugt sich vor, die Finger ineinander verschränkt, sein übliches Grinsen ist verschwunden. „Wer bist du wirklich?“ Seine blutroten Augen huschen zu den vier. „Und du … Hast du dich wirklich unterworfen? Ich hätte nie gedacht, dass einer von euch sich vor irgendjemandem verneigen würde.“
Thurn seufzt und schüttelt den Kopf. „Tolga, wir kennen uns schon lange. Deshalb gebe ich dir einen Rat: Mach es genauso.“ Er sieht Tolga direkt in die Augen. „Seine Majestät hat versprochen, uns stärker zu machen. Und er hat sein Versprechen bereits gehalten.“
Groth lacht leise und zuckt mit den Schultern. „Das stimmt. Sieh mich doch an. Merkst du keinen Unterschied?“
Tolga mustert ihn einen Moment lang. Dann verändert sich sein Gesichtsausdruck. Sein scharfer Instinkt nimmt den subtilen Unterschied wahr – das Gewicht von Groths Mana, die schiere Tiefe seiner Präsenz.
Tolgas Finger krallen sich leicht zusammen. „Du … Du bist jetzt ein Magier der Stufe 3?“ Seine Stimme ist leise, aber voller Unglauben.
Groth grinst. „Das hast du aber lange gebraucht, um das zu bemerken.“
Tolgas Augen verengen sich. „Aber wie? Du hattest doch keine Tier-3-Zauber, die du lernen konntest.“
Groth lehnt sich zurück und grinst. „Seine Majestät hat mir einen gegeben.“ Er hebt eine Hand und lässt einen schwachen Bogen tiefblauer Mana zwischen seinen Fingern knistern. Die Kraft ist unbestreitbar. „Und im Königreich Seiner Majestät sind Tier-3-Fähigkeiten und -Zauber so alltäglich wie Kohl.“
Tolga hält einen Moment lang den Atem an. So alltäglich wie Kohl? Das ist lächerlich. Aber Groth sieht nicht aus, als würde er scherzen.
Alix beobachtet Tolgas Reaktion amüsiert. Genau so, locke ihn noch mehr in die Falle. Groth spielt seine Rolle perfekt.
Dann neigt Alix leicht den Kopf und spricht mit ruhiger, aber durchdringender Stimme. „Und du, Tolga?
Was ist dein Grund, die Menschen anzugreifen? Rache … oder etwas anderes?“
Die vier richten ihre Aufmerksamkeit sofort auf Tolga. Diese Frage haben sie schon oft gestellt. Sehr oft.
Und jedes Mal tat Tolga so, als hätte er sie nicht gehört.
Eine bedrückende Stille breitet sich zwischen ihnen aus. Tolgas Finger trommeln auf den Tisch. Eine Angewohnheit. Unruhig. Vorsichtig.
Aber dieses Mal weicht Tolga nicht aus.
Einen langen Moment lang sagt Tolga nichts. Dann – endlich – ein Seufzer.
„Ich habe jemanden, der mir sehr wichtig ist und der in Misorn City gefangen gehalten wird.“
Die Worte sind leise. Fast widerwillig.
Thurns Augen verengen sich leicht.
Tolga atmet erneut aus, seine Stimme ist jetzt ruhiger. „Einige Menschen haben meine kleine Schwester entführt … vor langer Zeit.“
Alix beobachtet ihn aufmerksam und bemerkt die leichte Anspannung in Tolgas Stimme. Etwas, das lange Zeit verborgen war, kommt zum Vorschein.
„Jahre später, nachdem ich stark geworden war, habe ich sofort angefangen, nach ihr zu suchen. Und ich habe herausgefunden …“ Tolgas blutrote Augen verdunkeln sich. „Dass sie jetzt eine Sklavin dieses verdammten Bastards ist. Des Stadtfürsten von Misorn City.“
Eine kalte Stille legt sich über die Lichtung.
Niemand sagt etwas.
Thurns Kiefer presst sich zusammen. Groths Grinsen verschwindet. Nyssaras Blick wird scharf. Selbst Veltha, der die ganze Zeit geschwiegen hat, senkt leicht den Kopf, ein seltener Moment des Respekts.
Alix jedoch bleibt ruhig. „Ich verstehe.“
Tolga bewegt sich leicht und greift dann – ohne Vorwarnung – nach dem Verschluss an ihrem Hals.
Mit einer einzigen Bewegung zieht sie die schwere Robe von ihren Schultern.
Die Reaktion folgt sofort.
Thurn wird ganz steif. Groths Augen werden groß. Nyssaras Gesichtsausdruck wechselt – Schock, Erkenntnis und noch was anderes.
Sogar Alix, die selten überrascht ist, zieht eine Augenbraue hoch.
Tolga … ist ein Mädchen.
Ihr Körper, der so lange unter mehreren Lagen lockerer Kleidung versteckt war, ist schlank, aber eindeutig weiblich. Ihre Gesichtszüge – scharf und doch zart – haben eine unnatürliche Schönheit. Ätherisch.
Und doch ist es nicht nur ihr Geschlecht, das sie schockiert.
Es ist ihr Aussehen.
Selbst mit ihren unmenschlichen Zügen – den leicht verlängerten Pupillen, den schwachen Spuren von Schuppen an ihren Armen, dem unnatürlichen Leuchten ihrer blutroten Augen – ist sie wunderschön.
Nicht nur wunderschön. Atemberaubend. Faszinierend.
So schön wie eine Elfe.
Die Erkenntnis lastet schwer auf ihnen.
Tolga verschränkt die Arme und ihre purpurroten Augen huschen zwischen ihnen hin und her. „Das ist der Grund, warum meine kleine Schwester gejagt wurde.“
Ihre Stimme ist ruhig, aber sie hat einen scharfen Unterton – vielleicht ist es Groll, vielleicht sogar Schuld.
Alix sieht sie einen Moment lang an, dann nickt er. „Ich kann dir dabei helfen.“
Alix beugt sich leicht vor, seine Stimme ist ruhig. „Rache. Freiheit. Macht. Was auch immer du wirklich willst.“ Er lässt die Worte wirken, bevor er fortfährt: „Und was noch wichtiger ist: Ich kann deine Schwester sicher zurückholen, sobald die Invasion beginnt.“
Das Feuer in Tolgas Augen flackert. Nur für einen Moment. „Das kannst du wirklich?“
Alix hält ihrem Blick stand, ohne zu wanken. „Ich kann es.“
Es herrscht Stille zwischen ihnen.
Thurn, Groth, Nyssara und Veltha bleiben still und starren Tolga an. Sie haben sie noch nie zögern sehen. Noch nie haben sie sie unsicher gesehen.
Tolgas Finger zucken. Eine Angewohnheit. Ein verräterisches Zeichen.
Dann atmet sie scharf aus. „Und was willst du dafür?“
Alix antwortet ohne zu zögern. „Loyalität.“
Tolgas Kiefer spannt sich an.
„Unterwirf dich mir“, fährt Alix fort. „Schwöre einen Eid, und ich werde dafür sorgen, dass du deine Schwester zurückbekommst.“
Die Luft wird schwerer.
Tolga ballt die Fäuste. Sich jemandem unterwerfen – das hat sie noch nie getan. Sie hat es noch nie in Betracht gezogen.
Aber … ihre Schwester.
Dieser verdammte Stadtfürst.
Die Jahre der Suche. Die erfolglosen Versuche. Das Wissen, dass der Mann, der ihr ihre einzige Familie genommen hat, noch lebt, noch herrscht, während ihre Schwester leidet.
Sie atmet tief ein und aus.
Tolga starrt Alix an, das Gewicht seiner Worte lastet schwer auf ihr. Dann kniet sie langsam nieder.
Die vier beobachten sie schweigend, ihre Gesichtsausdrücke unlesbar. Selbst Groth, der sonst immer schnell mit einem Grinsen oder einer Bemerkung zur Stelle ist, bleibt still.
Tolga legt eine Faust auf ihr Herz und fixiert Alix mit blutunterlaufenen Augen. „Ich, Tolga, schwöre dir meine Treue, Alix. Meine Kraft, mein Leben und meine Rache – alles steht unter deinem Befehl. Im Gegenzug wirst du mir helfen, meine Schwester zu finden und zu befreien.“
Plötzlich durchströmt eine Welle von Energie die Luft.
Ein goldener Schein umgibt Tolga für einen kurzen Moment, bevor er verblasst, als wäre etwas Unsichtbares versiegelt worden.