Alix nimmt das Pergament von der Tafel und liest es noch mal langsam durch.
Neben ihm ertönt eine tiefe Stimme.
„Willst du sterben?“
Alix schaut zur Seite.
Ein stämmiger reptilienartiger Abenteurer – wahrscheinlich ein krokodilähnliches Monster – steht da mit verschränkten Armen und einem grimmigen Lächeln, das seine gezackten Zähne blitzen lässt. Seine Schuppen schimmern im Licht der Laterne dunkelgrün.
„Alle, die in letzter Zeit hinter der Ember Claw her waren“, sagt der Krokodilartige und zeigt mit dem Daumen auf die Tafel, „sind nicht zurückgekommen. Der Ort ist ein Fleischwolf. Selbst Tier 5 hatten Probleme.“
Alix faltet die Notiz sorgfältig zusammen und steckt sie in seinen Gürtel. Seine Stimme ist ruhig.
„Ich schaffe das schon.“
Der Krokodilartige lacht, ein trockenes, rasselndes Geräusch.
„Wie du willst. Du hast Mut. Vielleicht keinen Verstand, aber Mut.“
Alix neigt leicht den Kopf. „Weißt du irgendwas über diesen Unterschlupf?“
Der Reptiloide kratzt sich nachdenklich an der Schnauze. „Nur, dass der Ashen Woods nicht mehr in Ordnung ist. Früher war es ein ganz normaler Wald. Jetzt? Jetzt liegt Magie in der Luft. Echt üble Magie. Man munkelt, dass die Ember Claw sich dort festgesetzt hat. Fallen, Wachen, Schutzzauber. Der übliche Rebellenkram – nur schlimmer.“
Er beugt sich leicht vor und senkt die Stimme.
„Und Gerüchten zufolge haben sie einen neuen Anführer. Ein echt übel Stück Arbeit. Stark. Sehr stark. Sogar die Vollstrecker sind nervös.“
Alix kneift die Augen leicht zusammen.
Ein neuer Anführer?
Der Krokodilartige zieht sich lachend zurück. „Wie auch immer. Viel Glück. Wenn du heil zurückkommst, geht die Runde auf mich.“
Alix lächelt schwach.
„Ich werde dich daran erinnern.“
—–
Alix steht am Eingang zum Ashen Woods.
Grauer Nebel hängt tief über dem Boden und wirbelt in unnatürlichen Mustern, als wäre er lebendig. Die Bäume ragen hoch und skelettartig empor, ihre Rinde ist schwarz wie verkohlte Knochen. Die Luft selbst fühlt sich seltsam an – schwer, dick, fast ölig auf der Haut. Flüstern dringt zwischen den Ästen hindurch, zuerst leise, dann immer lauter, je tiefer er in den Wald blickt.
Alix beobachtet den Wald still, sein Umhang flattert leicht in der kalten, stehenden Brise.
Was dieser Krokodilartige gesagt hat … denkt er und kneift die Augen zusammen.
Es ist noch schlimmer, als er es dargestellt hat.
Der Boden am Waldrand ist kränklich, grauschwarz und rissig wie sterbende Haut. Seltsame Pilzgebilde sprießen entlang der Wurzeln und pulsieren schwach, als würden sie atmen. Weiter hinten erblickt er bewegliche Schatten – Dinge, die es gar nicht geben dürfte –, die zwischen den Bäumen zucken und schlurfen.
Die meisten Leute wären schon längst umgedreht. Vielleicht sogar gerannt.
Alix geht einfach weiter, unbeeindruckt.
Er hebt kurz seine linke Hand und spürt das kühle, subtile Gewicht des Nullrings an seinem Finger. Ein göttliches Artefakt – klein, unscheinbar, aber von unschätzbarem Wert.
Mit ihm werden Flüche, Gifte, Krankheiten – sogar die meisten magischen Verunreinigungen unterhalb der göttlichen Ebene – von ihm abgewaschen wie Wasser von Stein.
Alix atmet einmal ruhig aus und geht direkt in den Nebel hinein.
Sofort versucht der unnatürliche Druck, sich auf ihn zu legen – Klauen einer unsichtbaren Krankheit greifen nach seinem Verstand, seinem Körper, seinem Geist.
Aber der Nullring blitzt schwach silbern auf. Das Gift verflüchtigt sich. Die Flüche knistern und verschwinden. Die verdorbene Luft zerreißt harmlos um ihn herum.
Netter Versuch, denkt er und dringt tiefer vor.
Seine Sinne bleiben wachsam. Auch wenn die Verderbnis ihn nicht erreichen kann, sind die Gefahren hier immer noch real – physische Fallen, Hinterhalte, feindliche Späher. Und wenn die Rebellen der Ember Claw diesen Ort befestigt haben, dann müssen irgendwo in der Nähe Monster lauern, die ihnen treu ergeben sind.
Minuten vergehen.
Der Nebel zieht sich enger um Alix zusammen und dämpft sogar das Geräusch seiner eigenen Schritte.
Dann – eine flüchtige Bewegung.
Alix‘ Körper zuckt instinktiv.
Etwas Scharfes schießt durch den Nebel – schnell, direkt auf seine Kehle. Eine Klinge? Eine Klaue?
Alix‘ Hand ist noch schneller, schnappt nach oben und fängt den Schlag mühelos ab. Es ist eine mit Schuppen bedeckte Klaue, deren Besitzer im Nebel verborgen bleibt.
Der Aufprall lässt die Luft erzittern und eine kleine Schockwelle durch den Nebel gehen.
Alix zuckt nicht mal mit der Wimper.
Ein leises Knurren folgt, und aus dem Nebel tauchen zwei weitere Gestalten auf – eine von links, eine von oben. Kein Zögern, keine Worte – nur saubere, geübte Gewalt.
Drei Tier 5.
Er kann es in der Last ihrer Auren spüren, schwer und bösartig.
Alix hält den ersten Angreifer immer noch am Handgelenk fest, neigt den Kopf leicht und spricht mit ruhiger, fast gelangweilter Stimme.
„Endlich“, sagt er mit einem Hauch von Belustigung in der Stimme. „Ihr habt euch endlich entschlossen, euch zu zeigen.“
Er schleudert den gefangenen Angreifer mit lässiger Kraft zurück – die Gestalt prallt mit einem scharfen Knacken von splitterndem Holz gegen einen Baum.
Alix richtet sich auf und wischt unsichtbaren Staub von seinem Umhang. Seine blutroten Augen leuchten schwach im trüben Licht.
„Mir wurde langsam langweilig hier draußen“, fügt er hinzu, und seine Stimme schneidet wie ein Messer durch den Nebel.
Die beiden neuen Feinde landen nur wenige Schritte entfernt und knurren.
Jetzt, wo sie zu sehen sind, kann Alix sie besser erkennen.
Der eine ist eine große, schlanke Kreatur – fast katzenartig – mit glattem schwarzem Fell und glühend gelben Augen. Aus seinen Armen ragen bösartig gekrümmte Klingen wie natürliche Waffen.
Der andere ist eine gebeugte, gepanzerte Bestie, eher Insekt als Mensch, mit chitinhaltigen Platten, die seinen Körper bedecken, und zwei sichelartigen Gliedmaßen, die vor Erwartung zucken.
Der erste Angreifer – der, den er beiseite geworfen hat – steht auf und schüttelt den Aufprall ab. Es ist ein Reptil, größer als das Krokodil in der Gilde, mit gehörnten Schuppen und einem peitschenartigen Schwanz, der hinter ihm her schnappt.
Alle drei strahlen Mordlust aus.
Alle drei starren Alix mit offener Feindseligkeit an.
„Du hättest nicht hierherkommen sollen“, knurrt der katzenartige mit rauer Stimme, die wie Kies klingt.
Die insektoide Kreatur klickt zustimmend mit ihren Mandibeln, ein scharfes, schnelles Geräusch.
„Du bist in dein Grab gegangen“, zischt der reptilienartige und fletscht seine gezackten Zähne.
Alix rollt einmal langsam und bedächtig mit den Schultern. Der Nullring glänzt matt an seinem Finger.
Alix hebt träge eine Hand, als wolle er ihre Drohungen beiseite schieben.
„Nun“, sagt er mit leichter Stimme, „ich bin nicht wirklich hier, um gegen euch zu kämpfen.“
Die drei Monster versteifen sich leicht und werfen sich durch den Nebel kurze Blicke zu.
Alix‘ schwaches Lächeln wird ein wenig breiter.
„Eigentlich“, fährt er fort, „habe ich mir gedacht, ich könnte mich euren guten Taten anschließen. Ihr wisst schon – meinen Teil zur Sache beitragen.“
Einen Moment lang ist nur das Flüstern des Nebels und das leise Rascheln der Atemzüge zu hören.
Das katzenartige Monster verengt seine geschmolzenen Augen und mustert ihn.
„Du willst dich uns wirklich anschließen?“, fragt das Wesen mit immer noch vorsichtiger, aber neugieriger Stimme.
Alix zuckt lässig mit den Schultern, als wäre das die natürlichste Sache der Welt.
Bevor er antworten kann, knurrt das Reptil und schlägt mit dem Schwanz hart auf den Boden.
„Hör auf mit deinem Unsinn“, faucht er, und jedes Wort tropft vor Gift. „Wenn du wirklich zu uns kommen wolltest, würdest du dich nicht hier herumschleichen.“
Alix zieht eine Augenbraue hoch und spielt mit.
„Ach ja?“, sagt er geschmeidig. „Und warum nicht?“
Die Augen des Reptils blitzen vor Wut. Er tritt einen Schritt vor und krallt seine Klauen.
„Warum sollte ich dir das sagen?“, knurrt er mit tiefer, gefährlicher Stimme.
Alix kichert leise – ein leises, amüsiertes Geräusch, das sie mühelos zu verspotten scheint.
Der Nebel wird dichter, die Spannung ist zum Zerreißen.
Alix neigt leicht den Kopf. Seine blutroten Augen leuchten in der wirbelnden Dunkelheit.
„Du solltest potenziellen Verbündeten wirklich etwas freundlicher begegnen.“
Das insektoide Monster zischt scharf, seine sichelartigen Gliedmaßen zucken, aber es sagt nichts – es beobachtet, wartet.
Alix lässt die Stille noch einen Moment länger anhalten und spürt das Gewicht ihres Misstrauens, ihrer kaum unterdrückten Aggression.
Gut, sollen sie doch denken, er sei nur ein weiterer Dummkopf.
Das macht alles einfacher.
Er lächelt wieder – ruhig, gelassen, gefährlich.
„Nun“, sagt er leichthin, „wenn ihr es mir nicht sagen wollt … dann muss ich es eben selbst herausfinden.“
Das Reptil brüllt und stürzt sich als Erstes auf ihn – ein verschwommener Fleck aus Muskeln und Schuppen, Krallen blitzen auf.
Alix rührt sich nicht von der Stelle.
Er hebt eine Hand, fängt das Handgelenk des Reptils mitten in der Bewegung ab – der Schwung ist sofort gebrochen, als wäre das größere Monster gegen eine unbewegliche Wand geknallt.
„Was …?“, knurrt das Reptil mit vor Schock weit aufgerissenen Augen.
Bevor es begreifen kann, dreht sich Alix blitzschnell.
Es gibt ein feuchtes Knacken, als der Arm des Reptils aus der Schulter springt. Es schreit und taumelt rückwärts.
Der Kater ist schneller, schießt in einem verschwommenen Schwarz-Gold-Blitz heran, seine beiden Armklingen zielen auf Alix‘ Hals und Herz.
Ein sauberer Schlag.
Aber Alix weicht lässig zur Seite aus und lässt die Klingen harmlos an sich vorbeizischen. Seine Hand schießt hervor – eine fast träge Ohrfeige.
Die Katze wird wie eine Stoffpuppe zur Seite geschleudert und schlägt so hart auf dem Boden auf, dass sie einen flachen Krater in der weichen, verdorbenen Erde hinterlässt.
Das insektoide Wesen zischt alarmiert, seine Sensen glänzen, während es angreift, seine Bewegungen sind jetzt schneller und vorsichtiger.
Alix beobachtet ihn mit mildem Interesse.
„Du bist der Kluge, was?“, murmelt er.
Das mit Sensen bewaffnete Monster schlägt in einem tödlichen Bogen auf seinen Oberkörper ein.
Alix lässt es näher kommen – zu nah – dann dreht er sich leicht und greift nach dem Sensenarm, gerade als er vorbeischießt.
Er reißt daran.
Der Körper des Insektoiden hebt mit einem schockierten Klicken vom Boden ab, und Alix schleudert ihn kopfüber gegen einen nahe gelegenen Baum. Der Aufprall spaltet den Stamm in zwei Teile und schleudert Splitter durch den Nebel.
Für einen Moment ist es unheimlich still im Wald.
Alix zieht kurz an seinem Kragen, um seinen Umhang zu richten, und ist nicht einmal außer Atem.
Der Reptiloide stöhnt am Boden und hält seinen zerfetzten Arm. Der Katzenmensch versucht mühsam aufzustehen, Blut tropft aus seinem Mund. Der Insektoide zuckt benommen zwischen den zerbrochenen Überresten des Baumes.
Alix tritt gemächlich vor, seine Stiefel machen kaum ein Geräusch auf dem verdorbenen Boden. Seine blutroten Augen gleiten gleichgültig über die drei.
„Das war’s?“, sagt er, fast enttäuscht. „Ich hatte mir wenigstens ein bisschen Aufwärmen erhofft.“
Der Reptilier beißt die Zähne zusammen, zwingt sich aufzurichten und schlägt frustriert mit dem Schwanz auf den Boden. „Was zum Teufel bist du?“, knurrt er, seine Stimme zittert vor Wut und einem Hauch von Angst.
Alix neigt leicht den Kopf und denkt über die Frage nach.
„Ich bin ein Tier 5“, sagt er sanft und wischt einen Staubfleck von seinem Handschuh. „Genau wie du.“