Je tiefer sie ins Dorf vordringen, desto weniger zufällig und desto brutaler wird die Zerstörung. Es ist nicht nur Feuer. Nicht nur Panik. Der Boden ist mit Kratzspuren übersät. Steinmauern sind eingedrückt, Blutstreifen sind überall. Ein zerbrochener Speer liegt halb im Schlamm vergraben. Die Überreste einer Kreatur – verdreht, mit zu vielen Gliedmaßen – sind unter einem eingestürzten Dach begraben.
Alix kneift die Augen zusammen.
Das war nicht nur ein Überfall. Das war eine Schlacht. Eine echte.
Sein Blick folgt den zerbrochenen Steinresten, den tiefen Kerben im Metall, den schwachen Spuren von Mana, die wie Narben in den Boden eingebrannt sind.
„Stufe 3“, murmelt er, während er sich neben einem gespaltenen Balken duckt und dann die Stirn runzelt, als seine Finger eine Rille berühren, die direkt durch den Balken geschnitten ist. „Nein … Stufe 4.“
Ruva antwortet nicht. Sie ist wieder still geworden und nimmt alles mit großen, tauben Augen in sich auf. Ihre Hände zittern und ihre Schritte sind unsicher, als wüsste ihr Körper, was ihr Herz nicht glauben will.
Sie biegen um eine Ecke und das größte Gebäude kommt in Sicht.
Oder das, was davon übrig ist.
Die große Halle in der Mitte des Dorfes – einst ein Versammlungsort, vielleicht ein Ort des Stolzes – steht jetzt schief, das Dach ist eingestürzt, die Wände sind aufgerissen, als hätte etwas sich seinen Weg hindurch gebahnt. Der Boden draußen ist versengt und rissig, als hätte jemand mitten im Kampf Magie gezündet.
Alix runzelt die Stirn. Er geht langsam vorwärts und mustert die Trümmer.
Dann schnappt Ruva nach Luft.
Ihre Hand gleitet aus seiner.
„Papa!“, schreit sie und rennt los.
„Ruva!“
Aber sie rennt schon, ihre nackten Füße schlagen auf die verbrannte Erde, direkt auf eine der zerbrochenen Wände zu.
Alix stürzt ihr hinterher.
Und dann sieht er es.
Halb unter den Trümmern begraben, unter dem Schutt eingeklemmt – da liegt ein Mann. Ein Felinari, gestreift wie Ruva, breiter gebaut. Sein Körper ist zusammengesunken, regungslos. Blut färbt seine Seite dunkel. Sein Arm ist nach außen ausgestreckt, die Krallen stumpf und rußbedeckt. Seine Augen sind halb geöffnet, sehen nichts.
Ruva sinkt neben ihm auf die Knie.
„Papa…?“ Ihre Stimme bricht. „Papa, nein, nein, nein – wach auf – bitte –!“
Sie schüttelt ihn. Einmal. Zweimal. Ihre Krallen krallen sich in seine Tunika, und sie vergräbt ihr Gesicht an seiner Brust.
Sie weiß es bereits. Er atmet nicht mehr. Kein Puls. Nur der Geruch von getrocknetem Blut und die anhaltende Anspannung eines Kriegers, der nie die Chance hatte, seinen letzten Kampf zu beenden.
„Großer Bruder …“, schluchzt Ruva. „Er hat versucht, das Dorf zu beschützen. Ich weiß, dass er das wollte. Er … er hat immer gesagt, dass er es tun würde …“
Sie beugt sich wieder vor, kauert sich neben den Körper und zittert vor Trauer. Alix bleibt an ihrer Seite, still, aber fest – seine Anwesenheit ist das Einzige, was sie in diesem Moment hält.
Der Wind weht durch die zerstörten Mauern und trägt den Geruch von Asche und Erinnerungen mit sich.
Alix schließt kurz die Augen.
Ruva sitzt mit angezogenen Knien da und hat die Arme um sich geschlungen. Ihre Augen sind rot und geschwollen, aber jetzt trocken. Die Trauer ist nicht verschwunden – das tut sie nie –, aber sie ist keine Flutwelle mehr. Nur noch etwas Schweres. Etwas, das sich gesetzt hat.
Alix sieht sie an, die Arme locker vor der Brust verschränkt, und sagt nichts. Sie braucht diesen Moment. Um zu atmen. Um wieder aufzustehen.
Langsam steht Ruva auf und wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Ihre Stimme ist heiser, aber fest, als sie spricht.
„… Großer Bruder.“
Alix hebt den Blick.
„Ich will meine Mama finden“, sagt sie. „Und… und sie alle zusammen begraben. Bitte.“
Alix richtet sich auf, sein Gesichtsausdruck wird weicher. Sie ist fünfzehn, und doch geht sie damit um wie jemand, der doppelt so alt ist. Er nickt einmal, entschlossen.
„Dann lass uns das machen.“
Ruva blinzelt, überrascht, wie schnell er zugestimmt hat.
„Niemand sollte allein gelassen werden“, fügt Alix hinzu. „Und dein Vater würde das auch so wollen, oder?“
Alix geht zu ihr hinüber und legt ihr eine Hand auf die Schulter. „Geh vor, Ruva. Ich bin direkt hinter dir.“
Sie sieht zu ihm auf, dann dreht sie sich zu den restlichen Ruinen um und lässt ihren Blick über die Überreste des Dorfes schweifen. Ihr Blick bleibt auf einem schmalen Pfad hängen, der teilweise von Trümmern versperrt ist.
„Sie … sie saß immer gern in der Nähe des alten Gartens“, sagt Ruva leise. „Sie sagte, die Blumen würden das Essen besser schmecken lassen, wenn sie kochte …“
„Dann fangen wir dort an“, antwortet Alix. „Bringen wir sie nach Hause.“
Der alte Garten ist kaum wiederzuerkennen – die meisten Kräuter sind zu Asche verbrannt, und der Zaun ist zerbrochen. Aber die Steine sind noch da. Der Weg.
Und neben einer umgestürzten Bank finden sie sie.
Ruva schreit diesmal nicht. Sie sinkt nur neben dem regungslosen Körper auf die Knie und wischt Ruß und Schmutz vom Fell ihrer Mutter. An den Rändern ihrer Kleidung ist Blut getrocknet, und die Friedlichkeit in ihrem Gesicht macht es nur noch schlimmer.
„Sie muss versucht haben, zum Unterschlupf zu gelangen …“, murmelt Ruva mit belegter Stimme.
Alix kniet sich neben sie und senkt den Kopf, um einen Moment lang zu schweigen. Dann steht er auf und hebt eine Hand.
Ein sanftes blaues Licht beginnt an seinen Fingerspitzen zu leuchten.
„Wind sammeln“, flüstert er.
Der Wind kommt auf und wirbelt zielstrebig herum. Er zieht wie eine Strömung durch die Ruinen und fegt sanft durch das Dorf. Asche und Trümmer werden aufgewirbelt und steigen dann auf – und machen den Weg frei. Aus allen Ecken des Dorfes erheben sich zerbrochene Körper, umhüllt von magischen Strömungen.
Einer nach dem anderen werden die Verlorenen versammelt.
Ruva sieht mit großen Augen zu, wie Alix sie auf der Lichtung neben dem alten Schrein des Dorfes zusammenbringt – einem kleinen, halb verbrannten Bauwerk, das noch steht, als hätte es den Sturm genau für diesen Zweck überstanden.
Gemeinsam graben sie.
Es dauert eine Weile. Alix formt die Erde mit Magie. Ruva will die Leichen unbedingt selbst hinlegen – ihre Mutter, ihren Vater, die Zwillinge, ihre Nachbarn. Alle. Vorsichtig. Respektvoll.
Als sie fertig sind, stehen sie schweigend da.
Der Wind legt sich.
„Danke“, sagt Ruva leise und faltet die Hände vor sich.
„Ruva“, sagt er mit sanfter Stimme, „gibt es noch ein anderes Dorf in der Nähe? Eines, mit dem ihr gut ausgekommen seid? Einen sicheren Ort?“
Ruva nickt langsam und zuckt einmal mit den Ohren.
„Ja …“, sagt sie. „Es liegt nordöstlich, in der Nähe der Flussbiegung. Etwa einen halben Tag Fußmarsch, wenn wir zügig gehen.“
Sie schaut zu ihm auf und streicht sich eine mit Asche verschmierte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Das ganze Dorf heißt Lamari. Du weißt schon, die mit den Hörnern? Sehr ruhig, aber stark. Wir haben früher viel mit ihnen gehandelt – Obst, getrocknete Wurzeln, manchmal sogar Medizin. Meine Mama mochte sie. Sie sagte, sie seien ehrliche Leute.“
Alix sieht sie einen Moment lang an und fragt dann: „Also sind dein Dorf und ihres … Verbündete?“
Ruva nickt wieder, diesmal entschlossener.
„Ja. Nicht nur befreundet. Wir haben aufeinander aufgepasst“, sagt sie. „Als der Winter letztes Jahr hart war, haben wir Getreide geteilt. Und als sie ein Feuer hatten – ein kleines –, haben wir Holz und Decken geschickt. Das ist nichts Offizielles oder so, aber es ist echt. Verstehst du?“
Alix nickt und schaut kurz zur Baumgrenze, wo das verblassende Sonnenlicht lange Schatten über die Gräber wirft.
„Gut“, sagt er. „Wir machen uns gleich auf den Weg dorthin. Wenn sie bereit sind, Essen zu teilen und Vertrauen zu schenken, sind sie vielleicht auch bereit, dir zu helfen.“
Ruva neigt den Kopf. „Und was ist mit dir?“
Alix sieht sie kurz an. „Ich bleibe lange genug, um sicherzugehen, dass sie das Tor öffnen. Danach … werden wir sehen.“
„Okay, aber …“ Ruva beendet ihren Satz nicht. Stattdessen senkt sie den Blick, die restlichen Worte bleiben ihr im Hals stecken, und nickt nur.
Danach gehen sie schweigend weiter.
Gegen Mittag werden die Bäume wieder lichter und geben den Blick auf geschnitzte Holztotems frei, die einen schmalen Pfad säumen. Seltsame, aber elegante Motive – nach oben geschwungene Hörner, zu Symbolen für Mond und Fluss verwoben.
Vor ihnen, eingebettet in sanft ansteigende Hügel, kommt endlich das Dorf Lamari in Sicht.
Es ist still. Wachsam. Die Gebäude sind aus glattem Stein und hellem Holz gebaut, rund wie Muscheln und in die Landschaft eingebettet. Ein Bach fließt durch die Mitte und versorgt kleine Gärten.
Als sie den Hauptweg betreten, springt eine Gestalt von der nächsten Kante – groß, breit und unverkennbar ein Lamari. Gebogene Hörner ragen von seinem Kopf zurück, und seine dunklen Augen verengen sich, als er eine Hand hebt.
„Das reicht“, sagt er mit ruhiger, aber fester Stimme. „Nenn deinen Namen und …“
Seine Worte verstummen mitten im Satz.
„Warte. Ist das …?“
Seine Augen weiten sich, als er näher kommt und das Mädchen neben Alix ansieht. Sein Mund öffnet sich leicht, als könne er es nicht glauben.
„Kleine Ruva?“, sagt er mit stockender Stimme. „Bei den Flussgeistern – du lebst?“
Ruva blinzelt erschrocken. „… Großer Bruder Miro?“
Bevor sie weiterreden kann, stößt der Lamari einen Schrei aus und dreht seinen Kopf in Richtung Dorf.
„Sie lebt! Es gibt eine Überlebende aus dem Stamm der Felinari – Ruva lebt!“
In der Ferne erheben sich Stimmen. Weitere Lamari tauchen auf – einige aus den Häusern, andere von den oberen Wegen. Alle drehen sich in Richtung des Lärms, und als sie Ruva dort stehen sehen, bricht in dem ruhigen Dorf hektische Bewegung aus.
Zwei ältere Lamari eilen den Weg hinunter. Einer von ihnen, ein Ältester mit moosgrüner Robe und einem geschnitzten Gehstock, drängt sich nach vorne.
„Lasst sie durch“, sagt er scharf. „Dieses Mädchen hat Feuer und Zerstörung gesehen. Wir heißen sie willkommen, wie wir es schon immer getan haben.“
Miro nickt und tritt beiseite, immer noch fassungslos. „Natürlich, Ältester. Entschuldigung.“
Ruva klammert sich an den Rand von Alix‘ Umhang.
Das Dorf heißt sie still und herzlich willkommen – keine lauten Jubelrufe, keine Fragen –, nur leise, wissende Blicke und sanfte Hände, die sich ausstrecken, um Ruva an der Schulter zu berühren, als sie vorbeigeht. Man bietet ihr Essen, einen Platz zum Sitzen und Decken an. Aber sie lässt Alix nicht los.
Erst als die Nacht hereinbricht und der Dorfälteste sie in sein Haus einlädt, um unter vier Augen zu sprechen, lässt sie los.
Nach einem langen Gespräch – voller vorsichtiger Fragen, leiser Kopfnicken und Versprechen, sie zu beschützen – trifft Alix seine Entscheidung.
Draußen, im silbernen Mondlicht, weht eine sanfte Brise. Die Bäume rauschen im Wind, und in der Ferne zirpen Insekten. Im Dorf ist es jetzt ruhig.
Sie steht neben Alix am Rand des Hauses des Dorfältesten, die Hände zu Fäusten geballt. Ihre Augen sind wieder rot.