Alix atmet aus, ein bisschen baff.
„Oh. Wow“, murmelt er und schaut sich wieder um. „Das ging glatter, als ich gedacht hätte.“
Er macht einen langsamen Schritt nach vorne, der Wald ist still, bis auf das leise Rascheln unsichtbarer Äste.
Kein Gander.
Alix schaut zurück – kein Portal. Nur Bäume. Endlose, ununterbrochene Bäume.
Er runzelt die Stirn.
„… Hm.“
Er gerät nicht in Panik. Stattdessen berührt er den Raum neben sich, und die schwache Schnittstelle des Systems erscheint vor seinen Augen. Sie funktioniert noch.
„Sieht so aus, als wären wir nicht zusammen angekommen“, murmelt er.
Der Nebel wabert etwas höher, und irgendwo tief im Wald knackt etwas – wie ein Ast unter schwerer Last.
Alix‘ Augen werden scharf.
„Na gut“, sagt er leise, während ein leichtes Lächeln um seine Lippen spielt, „dann finden wir wohl heraus, wo zum Teufel ich bin.“
Alix erhebt sich leicht in die Luft, sein Umhang flattert im Wind, während er knapp über den Baumwipfeln schwebt. Das Blätterdach raschelt unter ihm – dicht, wild, unberührt. Er schränkt seinen Blick auf die Richtung ein, aus der er zuvor das Geräusch gehört hat.
Ein weiteres scharfes Knacken durchbricht die Stille, diesmal näher.
Alix gleitet lautlos darauf zu und schlängelt sich wie ein Geist durch den Nebel. Die Äste bewegen sich unter ihm und schwanken, und innerhalb weniger Augenblicke erreicht er eine kleine Lichtung, die zwischen verdrehten Wurzeln und Felsvorsprüngen versteckt ist.
Sein Blick fällt sofort auf die Szene unter ihm.
Auf der Lichtung steht ein kleines humanoides Mädchen mit tigergestreifter Haut und einem gestreiften Schwanz, der hinter ihr hin und her wedelt. Sie ist von fast doppelt so großen, knurrenden Wölfen umzingelt. Ihre Ohren sind angelegt, die Krallen ausgefahren, die Reißzähne in einem verzweifelten Knurren entblößt. Sie weicht langsam zurück, duckt sich tief und ist vor Anspannung angespannt.
Die Wölfe nähern sich, knurren leise und gleichmäßig. Schaum tropft von einem ihrer Kiefer. Einer stürzt sich auf sie.
Bevor er sie erreichen kann, springt Alix in die Luft.
Er landet blitzschnell zwischen ihnen, seine Stiefel schlagen mit einem dumpfen Schlag auf den Boden. Die Wucht des Aufpralls lässt die Erde leicht beben, Blätter werden aufgewirbelt und alle Kreaturen werden aus dem Gleichgewicht gebracht.
Die Wölfe erstarren.
Das Mädchen blinzelt zu ihm hoch, ihre Augen weit aufgerissen vor Schock und etwas anderem – Verwirrung vielleicht. Ihr Atem stockt.
Einer der Wölfe knurrt lauter und tritt vor.
Alix bewegt sich nicht.
Aber seine Präsenz tut es.
Ein unnatürlicher Mana-Impuls breitet sich wie eine Welle von ihm aus. Die Wölfe weichen sofort zurück, jaulend und mit gesträubtem Fell. Einer rennt los. Die anderen folgen ihm mit eingezogenen Schwänzen und verschwinden ohne zu zögern im nebligen Wald.
Es kehrt Stille ein.
Alix dreht sich endlich um.
Die Tigerfrau atmet flach. Ihr Schwanz wedelt. Sie duckt sich, als wäre sie bereit zu rennen, ihre Muskeln zittern – aber sie tut es nicht.
Alix trifft ihren Blick, dann senkt er sich auf ein Knie, gerade so weit, dass er nicht über ihr steht.
„Alles in Ordnung?“, fragt er mit ruhiger Stimme.
Sie blinzelt schnell und nickt dann zögerlich. „J-Ja … ich glaube schon.“
Alix beobachtet sie einen Moment lang und lässt sie zu Atem kommen. Ihr Körper ist immer noch angespannt wie eine Feder, aber ihre Augen sind jetzt klarer – scharf, wachsam, lebendig.
„Wie heißt du?“, fragt er ruhig und direkt.
Sie zögert, offensichtlich unentschlossen, ob sie antworten soll. Dann, vielleicht weil sie entscheidet, dass sie ihm zumindest das schuldig ist, murmelt sie: „Ruva.“
Alix nickt einmal. „Ruva“, wiederholt er, dann blickt er zur Seite, während er mit einem Gedankenimpuls die Schnittstelle aufruft.
Der durchsichtige Bildschirm flackert auf und schimmert knapp außerhalb von Ruvas Blickfeld. Er kneift die Augen zusammen und konzentriert sich auf ihre Präsenz – und das System reagiert sofort, Runen reihen sich zu einem kompakten, leuchtenden Profil aneinander.
Name: Ruva
Rasse: Felinari
Level: 201
Status: Verwundet, Mana erschöpft
Affinität: Wind
Alix neigt den Kopf leicht, während er die Anzeige liest, und in seinen Augen blitzt Interesse auf.
Schon Stufe 2, denkt er. Und so jung … Interessant.
Er lässt die Anzeige verschwinden und richtet seine ganze Aufmerksamkeit wieder auf sie. Ihre kleinen Hände sind an den Seiten geballt, aber sie zittert nicht mehr. Sie beobachtet ihn nur, vorsichtig.
„Was hast du hier draußen gemacht?“, fragt Alix sanft.
Ruva versteift sich. Ihre Ohren hängen ein wenig herab, und ihr Mund öffnet sich, als wolle sie antworten – doch dann füllen sich ihre Augen plötzlich mit Tränen.
„Ich … ich weiß es nicht“, bringt sie mit brüchiger Stimme hervor. „Ich bin einfach weggerannt. Letzte Nacht gab es in meinem Dorf ein Feuer. Ich bin aufgewacht und alles stand in Flammen. Ich konnte niemanden finden. Ich bin einfach … weggerannt …“
Sie schluchzt und reibt sich mit dem Handrücken das Gesicht.
Alix‘ Blick wird weicher. „Oh …“, murmelt er, mehr wie ein Atemzug als wie ein Wort. Seine Haltung entspannt sich.
Dann, ganz plötzlich – ein Knurren.
Das Geräusch ist leise, fast schon komisch – aber es durchbricht die Stille wie ein Stein, der in stilles Wasser fällt.
Ruva erstarrt.
Ihr Magen knurrt wieder, diesmal lauter, und sie legt die Ohren an den Kopf, weil ihr das so peinlich ist. Ihr Gesicht wird rot, als sie sich leicht nach innen krümmt und so tut, als wäre nichts passiert.
Alix zieht eine Augenbraue hoch und lacht leise.
Er bewegt sich und greift in die Falten seines Umhangs. „Hast du Hunger?“, fragt er mit warmer, einladender Stimme. Ein kleines Lächeln huscht über seine Lippen – gerade genug, um die Spannung zu lösen und ihr zu zeigen, dass er keine Bedrohung darstellt.
Ruva sieht ihn vorsichtig an und nickt dann ganz leicht. „Ein bisschen.“
„Ich habe hier etwas“, sagt Alix und holt eine eingewickelte Ration hervor – einfach, kompakt, aber mehr als genug für ein hungriges Kind. Er kniet sich wieder hin und hält sie ihr langsam hin, damit sie sie sehen kann, bevor er sie ihr anbietet. „Es ist nichts Besonderes, aber es ist warm.“
Ruva starrt es einen Moment lang an, als könne sie nicht glauben, dass es echt ist. Dann kriecht sie vorsichtig auf allen vieren näher heran, den Blick zwischen dem Essen und Alix‘ Gesicht hin und her wandernd. Mit ihren Krallen nimmt sie das Päckchen vorsichtig aus seiner Hand, drückt es an sich und packt es aus, als wäre es ein heiliger Schatz.
Sie sagt nichts, aber die Art, wie sie die ersten Bissen verschlingt, sagt alles.
Alix sieht ihr still zu, lehnt sich dann auf ein Knie zurück und legt die Arme auf sein Bein.
„Lass dir Zeit“, sagt er leise und schaut zu den Bäumen. „Du bist jetzt in Sicherheit.“
Und zum ersten Mal seit ihrem Erscheinen wedelt Ruvas Schwanz langsam und leicht. Nicht aus Angst.
Sondern aus Erleichterung.
Als der letzte Bissen weg ist, setzt sich Ruva auf ihre Fersen und leckt sich eine Krume vom Daumen. Ihre Haltung ist jetzt weniger angespannt – die Schultern sind gesenkt, der Schwanz liegt entspannt auf dem Waldboden. Sie sieht Alix an, lächelt nicht ganz, aber sie hat keine Angst mehr.
Alix mustert ihr Gesicht einen Moment lang und spricht dann sanft. „Ruva … weißt du noch, wo dein Dorf ist?“
Sie zögert und beißt sich auf die Lippe. Ihr Blick fällt zu Boden.
„Mister“, sagt sie leise, „wirst du mir helfen?“
Alix blinzelt. Dann nickt er mit einem schwachen, schiefen Grinsen. „Ja. Das werde ich.“
Ihre Augen blitzen auf, ein kleines bisschen größer.
„Wir schauen mal in deinem Dorf nach“, fährt Alix fort, steht auf und streckt ihr seine Hand entgegen. „Mal sehen, ob noch jemand rausgekommen ist. Okay?“
Ruva zögert einen Moment – dann schlüpft ihre kleine Hand in seine.
Alix drückt sie sanft. „Und noch was“, fügt er hinzu. „Nenn mich nicht mehr ‚Mister‘. Da fühle ich mich alt.“
Sie neigt verwirrt den Kopf. „Wie soll ich dich dann nennen?“
Alix grinst. „Nenn mich Big Brother Alix. Verstanden?“
Ihre Ohren zucken. „Big Brother …?“
Er nickt einmal selbstbewusst. „Genau.“
Zum ersten Mal huscht ein kleines, schüchternes Lächeln über Ruvas Lippen. „… Okay. Big Brother Alix.“
Alix zerzaust ihr mit einer Hand die Haare, woraufhin sie einen kleinen, erschrockenen Laut von sich gibt, sich aber nicht zurückzieht.
„Gut. Lass uns gehen.“ Er blickt in Richtung Wald. „Geh vor, wenn du kannst. Wir werden gemeinsam finden, was noch übrig ist.“
Der Wald weicht einer verkohlten Lichtung, als sie weitergehen. Ruva geht neben ihm, ihre Hand immer noch locker um seine. Je näher sie kommen, desto schwerer wird die Luft. Ruva wird langsamer.
Als der erste zerbrochene Zaunpfahl in Sicht kommt – zersplittert und verkohlt –, verhärtet sich Alix‘ Gesichtsausdruck. Dann, dahinter, öffnet sich das Dorf.
Was davon übrig ist.
Alix bleibt stehen, Ruva bleibt neben ihm stehen. Sie sagt nichts. Ihre Augen weiten sich und ihr Schwanz hängt flach an ihren Beinen herunter.
Alix holt tief Luft und dreht sich dann leicht um. Seine Stimme ist leise, aber bestimmt.
„Ruva. Bleib hier.“
Sie rührt sich nicht.
„Lass mich vorgehen. Ich schaue, ob es sicher ist“, sagt Alix jetzt sanfter.
Aber bevor er einen Schritt machen kann, unterbricht sie ihn.
„Kann ich mitkommen, großer Bruder?“, fragt sie leise, aber ihre Stimme zittert, als würde sie etwas zurückhalten.
Alix dreht sich ganz zu ihr um.
Sie ballt ihre kleinen Fäuste an den Seiten und presst die Kiefer aufeinander. „Ich muss nachsehen. Ich muss sehen, ob meine Eltern noch da sind.“
Einen langen Moment lang sagt Alix nichts. Er beobachtet sie – wie ihre Schultern zittern, obwohl sie standhaft bleibt. Wie ihre Krallen sich leicht in ihre Handflächen graben, um den Schmerz zurückzuhalten, der sich aufbaut.
Dann nickt er langsam.
„Okay“, sagt er leise. „Aber bleib in meiner Nähe.“
Ruva nickt zittrig. „Okay.“
Alix streckt die Hand aus und streicht ihr wieder über den Kopf – diesmal sanfter. „Komm“, murmelt er. „Lass uns die anderen suchen.“
Sie betreten das Dorf.
Oder das, was davon übrig ist.
Die Asche ist jetzt kalt. Die Feuer sind längst erloschen, aber der Geruch bleibt – Rauch und verkohltes Holz, darunter etwas Bitteres. Knochen und verkohlte Trümmer liegen auf den Wegen verstreut. Zerbrochene Töpfe. Eingestürzte Dächer. Ein einziges Holzspielzeug, halb verbrannt, liegt neben etwas, das einmal eine Türschwelle gewesen sein könnte.
Ruva geht schweigend weiter.
Sie bleibt vor einem kleinen Haus stehen. Von dem Haus ist kaum noch etwas übrig – die Wände sind eingestürzt, das Dach ist größtenteils weg.
„Das war das Haus von Tante Yules Familie“, sagt sie leise mit tonloser Stimme. „Sie hatten zwei Kinder. Kleine Zwillinge. Ich habe immer mit ihnen gespielt …“
Sie macht einen Schritt vorwärts und bleibt stehen, den Blick auf etwas in den Trümmern gerichtet. Ihr Atem stockt.
Alix folgt ihrem Blick – und sieht sie.
Zwei kleine Körper, aneinander gekauert, als hätten sie sich versteckt. Als hätten sie gehofft, das Feuer würde an ihnen vorbeiziehen.