Es war echt verrückt.
Nach allen gängigen Maßstäben hatte Viktor Halden echt keine Ahnung, wie man jemanden wie Atticus Ravenstein trainieren sollte.
Ein Paragon war eine Naturgewalt, ein Symbol für unübertroffene Macht in Eldoralth, während Viktor … nun ja, einfach nur ein Großmeister war. Das war so, als würde eine Ameise einen Riesen trainieren.
Wenn es um pure Kraft ging, konnte Viktor diesem Monster von einem Paragon nicht das Wasser reichen.
Atticus verstand zwar, dass man sich mit den militärischen Gepflogenheiten vertraut machen musste, bevor man in den Krieg geschickt wurde, aber er bezweifelte, dass dies hier der Fall war. Der Mann war offensichtlich hierher geschickt worden, um ihn auszubilden, aber worin?
Das wollte Atticus wissen.
Sie glaubten doch wohl nicht, dass ein Großmeister ihm das Kämpfen beibringen konnte?
Das klang nach Stolz, war es aber ganz und gar nicht. Ein Vorbild konnte einen Großmeister mehrfach töten, bevor dieser auch nur mit der Wimper zucken konnte.
Viktors scharfe, blutrote Augen trafen seine. Das Gesicht des Dämons wirkte ruhig.
„Hör zu, ich werde offen zu dir sein.“ Nach einigen Sekunden sprach er mit unverblümter Stimme, ohne zu versuchen, seine Worte zu beschönigen.
„Du bist bei den anderen Rassen nicht besonders beliebt. Tatsächlich wirst du sehr gehasst. Aber hier ist die Sache: Ich auch.“
Atticus hob eine Augenbraue, aber Viktor machte keine Pause.
„Ich habe noch nie jemanden ausgebildet“, gab Viktor zu und kniff leicht die Augen zusammen.
„Ich bin gerade zurück von …“ Sein Blick huschte hin und her, als würde er sich an eine schmerzhafte Vergangenheit erinnern. Er schüttelte den Kopf und beendete seinen Satz:
„… einer gescheiterten Mission. Du wirst mein erster Auftrag sein. Ich bin mir sicher, dass sie uns zusammengebracht haben, weil sie wollen, dass wir beide scheitern.“
In seiner Stimme lag keine Bitterkeit, kein Groll. Es schien ihm egal zu sein, wie die Situation war. Nur die kalte, harte Wahrheit.
„Das Trainingslager ist eine Vorbereitungsphase für den echten Krieg. Dir wird alles beigebracht, von dem, was du bekämpfen wirst, bis hin zu dem, wie du überleben kannst. Wie du Männer anführst, die dich mehr fürchten als den Feind, und Entscheidungen triffst, die dich noch lange verfolgen werden, nachdem das Blut getrocknet ist.“
Sein Blick verdunkelte sich.
„Ihr lernt, wie man durchhält, wenn eure Kraft nichts mehr bedeutet. Und wenn ihr knietief in den Leichen von Menschen steht, die ihr nicht retten konntet, werdet ihr genau verstehen, was Krieg ist.“
Viktors Stimme zitterte nicht. Das musste sie auch nicht.
„Während dieser ganzen Zeit werde ich für euch verantwortlich sein. Nur für euch.“ Er stieß mit dem Finger gegen Atticus‘ Brust.
„Nur du und die anderen Spitzenkämpfer bekommt persönliche Ausbilder. Die anderen Soldaten haben nicht so viel Glück. Aber lass dich davon nicht täuschen. Ihr habt vielleicht alle überwältigende Kräfte, aber im Krieg geht es nicht nur um Kraft. Krieg ist blutig. Krieg ist grausam. Und ohne einen eisernen Willen wirst du ihn nicht überleben.“
Atticus‘ Blick verhärtete sich, aber Viktor war noch nicht fertig.
„Als euer Drill-Sergeant und jemand, der schwächer ist als ihr, bin ich nicht hier, um eure Stärke zu verbessern oder euren Kampfstil zu verfeinern. Ich kann euch nicht beibringen, wie man einen stärkeren Schlag ausführt oder mehr Feuer entfesselt.“
„Aber ich werde euren Geist brechen und ihn wieder aufbauen. Ich werde euch jede Illusion über Stärke nehmen, bis ihr versteht, dass das Einzige, was euch da draußen am Leben hält, nicht eure Kraft ist, sondern euer Wille.“
Die beiden sahen sich in die Augen. Viktor erwartete eine Reaktion von Atticus, aber er bekam nichts. Atticus war nur noch verwirrter.
Seinen Geist brechen? Ihn wieder aufbauen? Wer war dieser Dämon? Wusste er überhaupt, mit wem er redete? Der Dämon ging offensichtlich davon aus, dass Atticus als Kind nichts über Krieg wusste.
Er hatte halbwegs recht. Atticus hatte keine Ahnung von Krieg. Aber Tod und Gemetzel? Damit kannte er sich gut aus.
„Ich verstehe“, murmelte Atticus mit leiser Stimme, während er sich abwandte, uninteressiert an einem Wortgefecht. Er wollte lieber alles auf sich zukommen lassen. Taten sagten mehr als leere Worte.
Aber Viktor war noch nicht fertig.
„Was ist dein Ziel?“, fragte der Dämon. Atticus musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass Viktor versuchte, seine Gedanken zu lesen.
Dennoch antwortete er ohne zu zögern.
„Der Gipfel.“
Es folgte ein Moment der Stille, bevor Viktor wieder sprach.
Atticus blieb stehen und drehte langsam den Kopf, um Viktor anzusehen. Seine Augen waren wie gefrorener Stahl, ruhig, distanziert, aber sie brannten vor etwas weitaus Gefährlicherem.
„Glaubst du, du hast genug Willenskraft, um dieses Niveau zu erreichen?“ In seinem Ton lag keine Spott, nur eine direkte Frage.
„Verstehst du, was es bedeutet, an der Spitze zu stehen? Das Blut, durch das du waten wirst, das Gewicht der Leben, die du opfern wirst, die Dunkelheit, die sich in deinen Geist einbrennen wird?“
Atticus blieb stehen und drehte langsam den Kopf, um Viktor anzusehen. Seine Augen waren wie gefrorener Stahl, ruhig, distanziert, aber sie brannten vor etwas viel Gefährlicherem.
„Das ist egal. Die Anzahl der Toten ist egal. Genauso wenig wie das, was du von meinem Verstand hältst.“
„Ich werde die Spitze erreichen.“ Seine Worte klangen wie ein in Stein gemeißeltes Urteil. „Egal, was mich dort erwartet.“
Im Kontrollraum war es still, nur das leise Piepen der Monitore war zu hören. Viktors Augen waren weit aufgerissen. Diese Antwort hatte er von einem Kind nicht erwartet.
Sekunden vergingen, bevor beide ihren Blick nach vorne richteten, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Das Luftschiff glitt wie ein Phantom durch den Himmel, sanft und ungestört.
Dann, ohne Vorwarnung, verschwamm die Umgebung heftig. Das Luftschiff ruckelte, als würde es durch den Stoff der Realität gerissen, und in einem Augenblick befanden sie sich nicht mehr in ruhigen Lüften.
Die Welt draußen war ins Chaos gestürzt. Schwarzer Donner grollte über den Himmel, gezackte Blitze zuchten durch dicke, wirbelnde Wolken.
Vor ihnen befand sich ein riesiges, wirbelndes Portal. Aber was Atticus‘ Augen wirklich zusammenkniff, waren die Dinge, die es bewachten.
Luftschiffe, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, schwebten um das Tor herum. Er hatte noch nie welche gesehen, die so tödlich aussahen wie diese.
Atticus spürte eine leichte Bedrohung von ihnen ausgehen.
Als sie näher kamen, bewegten sich die monströsen Schiffe. Ihre Kanonen, die groß genug waren, um Berge zu durchschlagen, schwenkten herum und richteten sich auf ihr Luftschiff.
Die Spannung war greifbar, als ein helles, suchendes Licht über sie hinwegfegte.
Dann hallte eine kalte, mechanische Stimme durch den Raum.
„General Apex Atticus. Sergeant Viktor Halden. Zugang gewährt.“
Die Kanonen wurden zurückgefahren und die riesigen Luftschiffe teilten sich, um sie passieren zu lassen.
„Macht euch bereit. Sobald wir angekommen sind, werdet ihr getestet.“
Viktors Stimme hallte durch das Luftschiff, als es durch das Portal raste.