Lyanna ging mit einem Lächeln auf Atticus zu.
„Sogar ihr Lächeln wirkt kalt“, stellte Atticus ruhig fest.
Er hatte aus verschiedenen Quellen unterschiedliche Dinge über Lyanna gehört. Meistens waren es Avalon oder Anastasia, die über ihre brutalen Taten sprachen.
Die Eiszauberin der Familie Ravenstein.
Sie war so kalt wie schön.
„Ich kann nicht sagen, dass ich überrascht bin.“
Lyanna erreichte ihn endlich und versuchte ihr Bestes, um ihre Erschütterung über die überwältigende Ausstrahlung von Atticus zu verbergen.
„Sehen ist wirklich Glauben. Er ist wirklich ein Vorbild.“
Obwohl es erst ein paar Stunden her war, seit sie die Neuigkeiten bestätigt hatte, sah sie es erst jetzt mit eigenen Augen.
Atticus lächelte leicht, was die Herzen der Zuschauer erstarren ließ. Er senkte den Kopf, um seinen Respekt zu erweisen.
„Lady Lyanna. Es freut mich, dich wiederzusehen.“
Lyanna war früher eine Freundin seines Vaters gewesen. Tatsächlich waren sie, Sirius und Nathan eher wie seine Onkel und Tante für ihn gewesen. Für Atticus verdiente sie diesen Respekt.
Das Lächeln auf Lyannas Gesicht schien sich zu verbreitern.
„Er benimmt sich immer noch gut“, dachte sie zufrieden.
Ein Vorbild wurde in Eldoralth wie ein König behandelt. Wenn nicht die völlige Überraschung über Atticus‘ Anwesenheit gewesen wäre, hätten alle Anwesenden vor ihm knien und ihm ihren Respekt erweisen müssen.
Er hatte diese Autorität.
Trotzdem hatte Atticus sie respektvoll begrüßt.
Lyanna nickte. Ihr übliches kaltes Lächeln veränderte sich leicht und wurde etwas sanfter.
„Komm, lass uns an einen sichereren Ort gehen.“
Atticus folgte ihr zu der Tür, durch die sie gerade gegangen war, und landete in einem einfachen Büro, in dem zwei Kissen einander gegenüber auf dem Boden lagen.
„Setz dich.“
Sie deutete auf eines und nahm auf dem anderen Platz. Als Atticus sich setzte, verschwendete Lyanna keine Zeit.
„Also, wem verdanke ich die Ehre?“
Atticus beobachtete Lyanna schweigend. Nach dem Verrat, den er während des Prozesses gegen die Vierte Kunst erlebt hatte, hatte er beschlossen, Ozeroths Rat sehr ernst zu nehmen.
Er beobachtete alles, auch die schöne Frau vor ihm.
Und deshalb konnte er auch sehen, dass sie ihn ebenfalls beobachtete.
Lyannas eisblaue Augen waren intensiv auf ihn gerichtet, und irgendwie hatte sie ihr Lächeln verloren.
Obwohl Atticus im Vergleich zu ihr über unvorstellbare Macht verfügte, schien Lyanna das nicht zu interessieren. Sie beobachtete ihn weiterhin wie jeden anderen auch.
„Hast du von der Situation gehört?“
„Von den Spionen?“ Lyannas Antwort kam sofort, und Atticus konnte einen Hauch von Hass in ihren Worten spüren.
„Nein.“
Atticus‘ Augen flackerten, und die Luft zwischen ihnen entzündete sich, flammenartige Worte flackerten auf.
„Die Vampyros haben Forderungen gestellt“, erklärte Atticus, während Lyanna die Worte still las.
Es dauerte nur eine Sekunde, und obwohl sie nichts sagte, konnte Atticus spüren, wie der Raum kälter wurde und frostiger Nebel von ihr ausging.
„Haben diese eiternden Kadaverfresser vergessen, wie sie wie rückgratlose Köter davon gerannt sind? Oder sind sie vielleicht zu hirntot, um sich daran zu erinnern, dass ihr Großältester aus der verdammten Existenz ausgelöscht wurde?“
Lyanna ballte die Faust, und der Frost wurde intensiver.
„Ich mag sie“, bemerkte Ozeroth in Atticus‘ Kopf.
Dieser konnte nur überrascht blinzeln.
Er wusste, dass sie grausam war, aber er hätte nie erwartet, dass sie auch so ein schmutziges Mundwerk hatte.
„Ähem.“
Atticus räusperte sich, woraufhin sie sich wieder unter Kontrolle brachte.
„Was hast du entschieden?“
„Klug“, dachte Atticus bei sich.
Lyanna hatte gemerkt, dass es an ihm lag, ob er die Forderungen annimmt oder ablehnt.
„Ich habe abgelehnt.“
„Gut.“
Obwohl ihr Gesichtsausdruck unlesbar blieb, blitzte es in ihren eisblauen Augen auf, und die Temperatur schien wieder normal zu werden.
Sie war glücklich.
„Jetzt verstehe ich. Du brauchst Informationen über sie? Wird erledigt.“
Lyanna kam sofort zu einem Schluss.
Atticus nickte lächelnd.
„Genau, aber das ist noch nicht alles. Die Vampyros wollen keinen Krieg mit uns.“
Lyanna neigte den Kopf zur Seite und bedeutete ihm, fortzufahren.
„Sie verhalten sich untypisch. Überleg mal, sind sie wirklich der Typ, der Forderungen stellt? Würden sie sich jemals zurückziehen? Sie haben gesagt, wenn wir ihre Forderungen ablehnen, würden wir zu ihren ‚Feinden‘ werden.“
Die Temperatur stieg und Lyannas Blick wurde klarer.
„Das habe ich auch gedacht. Aber warum glaubst du, ist das so?“
Lyanna war neugierig auf Atticus‘ Schlussfolgerung.
Sie war für die Informationsbeschaffung zuständig und wusste besser als jeder andere, wozu die Vampyros fähig waren.
Sie hatte Atticus immer als jemanden angesehen, der aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie sie: kalt, rücksichtslos, berechnend.
Und jetzt bestätigte er gerade ihre Meinung.
„Ich glaube, dass jemand hinter den Kulissen die Fäden zieht.“
Lyannas Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
„Unheimlich talentiert und schlau. Wenn nur Isolde nicht so dumm wäre“, dachte sie und dachte an ihre distanzierte Tochter, die kein Interesse an Atticus gezeigt hatte.
Ja, sie war Ende 30 und er war 17, aber was bedeutete schon das Alter, wenn es um wahre Liebe ging?
„Wenn ich nicht so alt wäre, hätte ich ihn für mich.“
„Ich hatte schon den gleichen Verdacht. Ihre Königin hat den Rückzug angeordnet. Verdammt, sogar ihre Ältesten sahen aus, als hätte man sie wachgeknallt, als sie das tat. Da zieht jemand die Fäden.“
„Und dieser Jemand spielt nicht nur mit den Vampyros. Die Dimensari wenden die gleichen Tricks an. Das ist kein Zufall, wer auch immer das orchestriert, hält die Fäden fest in der Hand.“
Atticus‘ Blick flackerte.
„Das ergibt Sinn.“
Die Dimensari benutzten dieselben Methoden wie die Vampyros.
Wenn er richtig verstand, was Lyanna andeutete, bedeutete das –
„Es war diese mysteriöse Gestalt, die ihnen beigebracht hat, wie man diese Imitatoren erschafft?“, schlussfolgerte Atticus.
Lyannas Lächeln wurde breiter und sie nickte.
Es tat gut, mit jemandem zu sprechen, der auf derselben Wellenlänge war.
„Genau. Diese Freaks sind nicht einfach zufällig auf diese Methode gestoßen. Jemand hat ihnen beigebracht, wie man diese Doppelgänger erschafft.“
„Also müssen wir uns die Dimensari und Vampyros genauer ansehen … Wird gemacht. Ich werde dir sofort berichten, sobald ich etwas herausfinde. Sonst noch etwas?“ fragte Lyanna.
„Ja. Ich will auch alles wissen, was in der Welt der Menschen passiert. Alles. Was die Leute denken, was die Adelsfamilien vorhaben.“
Atticus dachte kurz nach, bevor er hinzufügte:
„Die Vampyros können uns nicht direkt angreifen, aber sie werden etwas unternehmen. Wir können davon ausgehen, dass sie die anderen Rassen über meine derzeitige Macht informieren werden. Ich muss auch wissen, was sie denken.“
„Ha. Ehrgeizig, aber nicht überraschend. Du willst alles wissen? Du wirst es erfahren. Sobald jemand nur deinen Namen mit böser Absicht ausspricht, werde ich davon erfahren.“
Lyanna lehnte sich zurück und ihr Lächeln wurde schärfer.
„Überlass das Tante.“
