Yorowins Herz schlug schneller.
Seine blutroten Augen weiteten sich vor Schreck, sein ganzer Körper versteifte sich.
„Das …“
Es war eine einfache Bewegung.
Ein einfacher Aufwärtshaken.
Atticus schlug in die scheinbar leere Luft, ein Schlag, der so simpel war, dass er eigentlich bedeutungslos hätte sein müssen. Aber Yorowin wusste es besser. Er wusste genau, was kommen würde.
Und das ließ ihn vor Angst zittern.
Erinnerungen an die Kampftechniken der Auralithianer überschwemmten seine Gedanken, Techniken, die ihr Volk im Kampf unbesiegbar gemacht hatten.
Ihre erste Fähigkeit: Echos.
Die Kraft, aus Fragmenten ihrer ursprünglichen Stärke Phantome ihrer selbst zu erschaffen. Diese Phantome vervielfachten ihre Präsenz auf dem Schlachtfeld und ermöglichten es ihnen, an unzähligen Orten gleichzeitig zu agieren.
Ihre zweite Fähigkeit: Zukunftsblick.
Die Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken. Für manche war es nur ein Bruchteil einer Sekunde. Für andere mehr.
Aber das spielte keine Rolle. In der Hitze des Gefechts konnte schon eine Sekunde Voraussehen Götter zu Sterblichen machen, Vorbilder zu Beute.
Atticus hatte sie eingesetzt.
Yorowin war sich sicher. Der Junge hatte sich mit Bestimmtheit bewegt, nicht aus einer Reaktion heraus, sondern aus Vorausahnung. Er hatte sich bewegt, bevor das Echo hinter ihm auftauchte. Er hatte nicht als Reaktion gehandelt, sondern aus einer unvermeidlichen Notwendigkeit heraus.
Was wie ein einfacher Aufwärtshaken aussah, war alles andere als das.
Denn wie vom Schicksal selbst gewollt, landete Yorowins Kinn genau dort, wo der Schlag hingehalten war.
Und er traf.
Die Wucht war verheerend.
Der Boden unter ihnen brach auf, als wäre er von einem Meteor getroffen worden. Risse breiteten sich wie ein Spinnennetz aus und zerrissen den Wald über Hunderte von Kilometern. Staub und Trümmer schossen wie eine Vulkanwolke in die Luft.
Yorowins Kopf schnappte nach oben, sein Nacken bog sich heftig, als ein Schmerz, wie er ihn noch nie erlebt hatte, durch ihn hindurchschoss. Sein ganzer Körper hob sich vom Boden, als wäre er schwer wie eine Feder.
Die Blutrüstung, die Jahrhunderte voller Kämpfe überstanden hatte, gab unter dem Aufprall nach. Risse bildeten sich auf ihrer Oberfläche, und purpurrote Energie brach wie überdruckbeaufschlagte Adern hervor.
Die Welt um ihn herum verschwamm. Sein Körper schoss in den Himmel, ein purpurroter Streifen, der die Luft zeriss. Die schiere Kraft seiner Flugbahn verursachte einen ohrenbetäubenden Überschallknall und zerstreute die Wolken in seinem Kielwasser.
Finde dein nächstes Buch bei empire
Yorowins Gedanken kreisten, während er darum kämpfte, seine Fassung wiederzugewinnen.
Sein Schädel fühlte sich an, als würde eine Kanonenkugel in seinem Kopf hin und her springen. Seine Gedanken wollten sich nicht ordnen, seine Klarheit schwand immer mehr.
Er konnte nicht denken. Sein Kopf weigerte sich zu funktionieren. Aber seine Ohren taten es noch.
Und sein Herz auch.
Er hörte es.
Eine Stimme.
Kalt. Scharf. Unbeweglich.
Eine Stimme, die Welten einfrieren konnte.
„Viel Glück, Grace.“
Yorowins Herz setzte einen Schlag aus.
Er sah nichts. Kein Flackern, keinen Schatten.
Aber er spürte es.
Seine Instinkte schrien ihn an, ein Urschrei, lauter als alles, was er je gehört hatte. Der Tod war näher als jemals zuvor in seinem jahrhundertelangen Leben.
Ein Blitz.
Eine Bewegung.
Und dann spürte er es.
Den kalten, präzisen Schnitt einer Klinge, die durch seinen Hals glitt.
Seine Augen fokussierten sich wieder. Seine Sicht verschwamm, als brennender Schmerz ihn durchfuhr und sein Körper unkontrolliert zu zittern begann. Sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust, jeder Schlag hallte in seinen Ohren wie Kriegstrommeln und übertönte alles andere.
Yorowin konnte nicht sprechen.
Er konnte nicht einmal denken.
Aber als sein Gehirn langsam wieder funktionierte, packte ihn die Panik wie ein Schraubstock und verschlang jeden Gedanken.
Sie schrie einen einzigen Befehl:
„Blutausbruch!“
Jedes Molekül Blut in dem purpurroten Nebel, der das Schlachtfeld umgab, zitterte heftig und vibrierte mit einer Heftigkeit, die die Realität zerreißen konnte. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, als würde sich die Welt selbst auf das vorbereiten, was kommen würde.
Und dann passierte es.
Der Blutnebel brach nach innen zusammen und verdichtete sich zu einem einzigen, explosiven Punkt. Die Energie schoss unkontrolliert nach oben und erreichte in Bruchteilen einer Sekunde ihren Höhepunkt.
Dann explodierte sie.
Die Detonation war anders als alles, was die Welt je gesehen hatte.
Der verdichtete Nebel brach in einer katastrophalen Explosion nach außen. Eine purpurrote Pilzwolke schoss in den Himmel, deren feurige Basis sich wie eine Flutwelle der Vernichtung ausbreitete.
Der Boden darunter zerfiel, und riesige Krater bildeten sich, als die Wucht tiefe Narben in die Erde riss.
Die Schockwelle fegte mit unerbittlicher Wut über das Schlachtfeld.
Bäume wurden verdampft, bevor sie umfallen konnten. Felsen lösten sich in feinen Staub auf. Sogar die Luft selbst schrie und verdrehte sich heftig, als die schiere Kraft alles in ihrem Weg vernichtete.
Die Zerstörung machte nicht vor dem Schlachtfeld Halt.
Die Grenzen zwischen den Gebieten der Menschen und der Vampyros fielen.
Befestigte Mauern, die über Jahrhunderte errichtet worden waren, zerfielen wie Sandburgen unter der Flut.
Im menschlichen Gebiet, Sektor 10, traf die Schockwelle wie ein Hammerschlag der Götter ein.
Gebäude bebten heftig, ihre Fundamente barsten. Massive Bauwerke, die jahrzehntelang standgehalten hatten, stürzten ein und ihre Trümmer wurden über die Straßen geschleudert.
Der Boden gab nach und spaltete sich, Straßen brachen auf, während der Sektor im Chaos versank. Die Menschen schrien, ihre Angst hallte durch die zerstörte Stadt.
Alarmglocken schrillten.
Ein tiefer, hallender Ton ertönte im ganzen Sektor: der Paragon-Alarm.
Es war ein Signal von unvorstellbarer Tragweite, das nur bei Ereignissen ausgelöst wurde, die das Überleben des gesamten Sektors bedrohten.
Die Menschen erstarrten. Ihre Blicke schossen nach oben, zur Quelle der Verwüstung.
Und dann sahen sie es.
Die Atompilzwolke.
Sie ragte hoch in den Himmel, ihr purpurroter Kern wirbelte heftig und bildete einen höllischen Strudel, der sich vor dem Hintergrund des Horizonts drehte.
Ihnen stockte der Atem. Ihre Herzen setzten einen Schlag aus. Ihre Gedanken kreisten ungläubig.
„Was … was ist gerade passiert?“, flüsterte jemand, doch die Frage blieb unbeantwortet in der Luft hängen.
Es war nicht nur Sektor 10.
Alle menschlichen Festungen, die in Richtung der Explosion blickten, erstarrten. Krieger, die durch unzählige Schlachten gestählt waren, froren wie angewurzelt, ihre weit aufgerissenen Augen auf das ferne, blutrote Inferno gerichtet.
Die Schockwelle hatte sie alle erreicht, ihre Festungen erschütterte und ihre Nerven zerriss.
In dem Moment, als die Welle das Gebiet der Menschen erreichte, drehten sich die Köpfe der menschlichen Vorbilder blitzschnell in Richtung der Quelle.
Ihre Gesichter verdunkelten sich, als sie die Tragweite der Ereignisse begriffen.
Ohne zu zögern, setzten sie sich in Bewegung.
Ihre Gestalten verschwammen und schossen wie göttliche Lichtblitze über das Land. Die Luft selbst zeriss in ihrem Windschatten, als sie mit unvorstellbarer Geschwindigkeit die weite Fläche überquerten.
Im Gegensatz zu den anderen wussten sie Bescheid.
Sie alle wussten Bescheid.
Ihr Höhepunkt war gekommen.
Sie alle hatten denselben Gedanken:
In was zum Teufel hat er sich da nur hineingeritten?
Aber es waren nicht nur die Menschen.
Innerhalb des Vampyros-Gebiets richteten ihre Vorbilder ihre blutroten Augen auf denselben Horizont.
Im Gegensatz zu ihren menschlichen Gegenstücken zeigten ihre Gesichter keine Angst oder Besorgnis. Ihre Bewegungen waren nicht von Eile geprägt.
Nur von Neugier.
Diese Richtung … das war die Grenze zwischen dem Gebiet der Menschen und dem der Vampyros.
Fand dort eine Schlacht der Vorbilder statt?
Ihre Lippen verzogen sich zu wilden, blutrünstigen Grinsen.
Hatten die Menschen endlich Rückgrat bekommen? Dieser Gedanke hallte unter ihnen wider.
Sie setzten sich in Bewegung.
Ihre Geschwindigkeit vernichtete den Boden unter ihnen und sandte wellenförmige Schockwellen nach außen.
Rote Streifen zerschnitten den Himmel und schossen wie Raubtiere, die der Witterung von frischem Blut folgten, auf die Grenze zu.