Lyric hätte noch viel mehr zu sagen gehabt, aber Vyns intensiver Blick brachte ihn zum Schweigen. Es machte ihm Angst. Stattdessen wandte er sich seinem Vater zu.
Candence seufzte und nickte. „Vyn hat recht. Lasst uns erst mal die Lage checken, bevor wir uns entscheiden, ob wir es melden. Wie er schon gesagt hat, würde es dauern, bis Verstärkung da ist.“
Nur ein Paragon könnte rechtzeitig eintreffen; alle anderen würden ein Luftschiff benötigen, was viel zu lange dauern würde.
Sollte ein Paragon von der Seite der Menschen eintreffen, würden die Vampyros unweigerlich entsprechend reagieren. Der Gedanke ließ sie erschaudern. Es war bekannt, dass die Grausamkeit der Vampyros mit ihrem Aufstieg in den Rängen zunahm. Die Vorstellung, dass ein Vampyros-Paragon einfach „alles vergessen“ könnte, war unvorstellbar.
Wenn es hier zu einem Kampf zwischen Vorbildern käme, würde das ganze Gebiet dem Erdboden gleichgemacht werden.
Das wäre eine Katastrophe.
Das war das Letzte, was Candence wollte, also verdrängte er den Gedanken.
Als sie den Saal verließen, um sich vorzubereiten, blitzte Vyns Blick kalt auf.
Die Krieger von Fort Echohelm gerieten in Aufruhr, als sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete. Viele waren mehr als verängstigt, aber der Gedanke, ihren Anführer im Stich zu lassen, war für keinen von ihnen denkbar.
Die Krieger legten ihre Rüstungen an, und innerhalb weniger Minuten war eine Armee gebildet.
Candence blickte mit entschlossenem Gesichtsausdruck auf die versammelten Krieger, die bereits in Rüstungen gekleidet waren, als wären sie bereit für den Krieg. Ohne zu zögern machten sie sich auf den Weg.
Er ging zusammen mit einigen Festungskommandanten voran und ließ die anderen bei Vyn zurück, um die Festung im Falle von Problemen zu bewachen.
Während die Bewohner von Fort Echohelm zu ihrer Spitze eilten, hatte Atticus selbst keine Ahnung, was vor sich ging.
Selbst wenn er es gewusst hätte, hätte es seine derzeitige Konzentration nicht gemindert.
Als das blendende Licht um ihn herum nachließ, fand sich Atticus in einer dunklen Welt wieder.
Trotz seiner enormen Beherrschung des Elements der Dunkelheit konnte er nichts sehen. Diese Dunkelheit schien lebendig zu sein und alles zu verschleiern.
Atticus umklammerte den Griff seines Schwertes fester und überprüfte kurz seine Ausrüstung.
„Bist du da?“
„Sag mir nicht, dass du Angst hast, Bond … Ohne meine Brillanz wärst du verloren, nicht wahr?“ Ozeroths Lachen hallte in seinem Kopf wider.
„Fang nicht damit an.“
Atticus ignorierte das Geschwätz des Geistes und konzentrierte sich auf sich selbst. Er überprüfte schnell seine Fähigkeiten und stellte fest, dass alles intakt und funktionsfähig war, woraufhin er eine Welle der Erleichterung verspürte.
„Was denkst du?“
Ozeroth hielt einen Moment inne.
„Es scheint, als wärst du in einen Taschenraum transportiert worden. Du bist immer noch in Eldoralth, aber auf einer anderen Ebene. Das ist eine Macht, die über deine Fähigkeiten hinausgeht. Sei vorsichtig.“
Atticus nickte. Ozeroth deutete an, dass das, was gerade passiert war, selbst für Wesen der höchsten Stufe, dem Gipfel von Eldoralth, unerreichbar war. Das bedeutete, dass eine höhere Existenz am Werk war.
Atticus war total auf der Hut. Er holte tief Luft und streckte seine Sinne wie eine Welle aus, um seine Umgebung zu analysieren.
„Es sieht aus wie eine große Halle“, stellte er fest, als er einen Schritt nach vorne machte.
Dann –
Fwoosh.
Eine Fackel in seiner Nähe flammte auf, ihr goldener Schein verdrängte die Schatten und erhellte die unmittelbare Umgebung.
Dann leuchtete eine weitere Fackel auf.
Und noch eine.
Es war wie eine Kettenreaktion: Das Licht raste in beide Richtungen den Flur entlang und enthüllte seine enorme Weite.
Atticus blieb stehen und kniff die Augen zusammen, während er alles in sich aufnahm. Der Flur erstreckte sich endlos vor ihm, das Licht beleuchtete einen Weg, der von hohen Bögen und Wänden mit alten Symbolen und Zeichnungen gesäumt war.
Am anderen Ende befand sich eine große Tür. Obwohl Atticus sie mit seinen scharfen Augen sehen konnte, bedeutete das nicht, dass sie nah war.
„Kilometerweit entfernt“, dachte Atticus.
Er machte einen weiteren Schritt vorwärts. Er rannte nicht. Das konnte er sich nicht leisten, nicht wenn er keine Ahnung hatte, was ihn erwartete.
Während er ging, folgte sein scharfer Blick den Zeichnungen, die in die Wände geritzt waren. Er konnte die Worte immer noch nicht verstehen, aber er konzentrierte sich stattdessen auf die Zeichnungen.
Minuten vergingen, vielleicht auch Stunden. Die Zeit schien in dem Flur verzerrt zu sein. Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass er der Tür näher kam.
Endlich erreichte er sie.
Jeder Zentimeter der Oberfläche war mit Schnitzereien, spiralförmigen Symbolen und gezackten Linien bedeckt, die schwach zu pulsieren schienen.
Atticus atmete tief aus. Seine Hand schwebte nahe der Oberfläche, aber er berührte sie nicht.
Die Tür ächzte.
Sie bewegte sich, nicht durch seine Hand, sondern durch eine unsichtbare Kraft. Ein leises, knirschendes Geräusch erfüllte den Saal, als sich die massiven Steinplatten langsam öffneten.
Dichte, undurchdringliche Dunkelheit strömte hervor.
Atticus kniff die Augen zusammen. Er konnte nicht sehen, was sich hinter der Tür befand. Das Licht der Fackeln endete an der Schwelle, als hätte die Dunkelheit es verschluckt.
„Wünscht mir Glück“, dachte er.
Ozeroth spottete mit trockener Stimme: „Mit meiner Größe brauche ich kein Glück.“
Atticus verdrehte die Augen und ein kleines Grinsen huschte über seine Lippen. „Klar.“
Er atmete tief durch und seine Nerven wurden hart wie Stahl.
Dann trat er ohne zu zögern vor.
Die Dunkelheit umhüllte ihn vollständig.
Licht durchflutete sein Blickfeld.
Atticus‘ Sinne breiteten sich wie eine Schockwelle aus, jede Faser seines Körpers war in höchster Alarmbereitschaft.
Sein Verstand verarbeitete schnell seine Umgebung.
Vor ihm erstreckte sich eine riesige Halle, die unendlich zu sein schien.
Hoch aufragende Säulen aus schwarzem Stein ragten in die Leere, ihre Oberflächen leuchteten schwach mit goldenen Adern, die wie ein Herzschlag pulsierten.
Über ihm gab es keine Decke, nur eine pechschwarze Weite, die mit unzähligen Sternen übersät war, als wäre er in das Herz des Kosmos selbst getreten. Der Boden unter ihm war glatt und spiegelnd wie Obsidianglas und warf schwache Verzerrungen der Sterne darüber.
Plötzlich bebte die Luft.
Eine erstickende Kraft drückte auf ihn, als hätte sich die Schwerkraft vervielfacht. Atticus taumelte, seine Knie gaben fast nach. Er zwang seinen Kopf nach oben, während seine Instinkte schrien und sein Blick sich auf die Mitte der Halle heftete.
Eine Gestalt saß mit gekreuzten Beinen in der Mitte des Raumes.
Regungslos. Still.
Atticus‘ Atem stockte. Sein Blut gefror.
Die Augen des Mannes waren geschlossen, doch seine Präsenz beherrschte den Raum. Seine Gestalt war schlicht, gehüllt in dunkle, gesichtslose Roben, die mit der Leere um ihn herum zu verschmelzen schienen. Seine Haut war blass und makellos und leuchtete schwach wie Mondlicht.
Seine Aura war überwältigend, eine alles verschlingende Last, die Atticus sich wie ein Insekt unter dem Blick eines Gottes fühlen ließ.
Atticus konnte sich nicht bewegen. Nicht einmal einen Finger.
„Was zum Teufel ist das für ein Typ?“, raste es in Atticus‘ Kopf.
Die Gestalt strahlte rohe, ungefilterte Kraft aus. Aber das war nicht alles.
Was Atticus am meisten schockierte, war die Aura, die den Mann umgab.
Sie war nicht menschlich.
Sie gehörte zu keiner Rasse, die Atticus jemals in Eldoralth begegnet war.
Und doch fühlte sie sich unmöglich wie alle an.
Die Stärke der Vampyros. Die Leere der Nullites. Die Helligkeit der Evolari …
Alle. Jede einzelne Rasse.
Atticus‘ Herz pochte, während seine Gedanken rasten.
Wo hatte Whisker ihn hingeschickt?
Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.
Die Augen der Gestalt flackerten auf, und für den Bruchteil einer Sekunde stand die Welt still.
Dann dröhnte ihre Stimme.
„Komm.“