Anastasia legte Atticus vorsichtig aufs Bett und deckte ihn sorgfältig zu. Sein Gesicht war noch immer mit getrockneten Tränen verschmiert.
Sie wischte ihm die Tränenspuren weg, strich ihm ein paar weiße Haare aus dem Gesicht und gab ihm einen tiefen Kuss auf die Stirn.
„Ruh dich aus“, flüsterte sie leise, sah ihn einen Moment lang an und spürte, wie ihr Herz schmerzte.
Mit einem letzten Blick verließ sie den Raum. Als sich die Tür hinter ihr schloss, kehrte Stille ein, die nur durch das leise Rascheln der Laken unterbrochen wurde, als Atticus sich zu regen begann.
„Nein …“, stöhnte er leise, seine Stimme zitterte.
Sein Atem ging unregelmäßig, sein Körper zuckte heftig, sein Gesicht verzog sich vor Schmerz, als er die Schrecken in seinem Kopf noch einmal durchlebte.
Die Dunkelheit in der Ecke des Zimmers regte sich, und aus ihrer Tiefe trat Arya mit schweren Augen hervor. Sie näherte sich ihm langsam, ihr Herz brach, als sie seine Qual sah.
Ohne ein Wort kniete sie sich neben das Bett und wischte ihm sanft den Schweiß von der Stirn. Ihre Finger streiften leicht seine Wange.
„Es tut mir leid …“, flüsterte sie mit kaum hörbarer Stimme.
Tränen traten ihr in die Augen, als sie ihm tröstend die Hand auf die Wange legte und ihn schweigend beobachtete.
Sie blieb stundenlang dort, wischte ihm den Schweiß ab und murmelte leise Entschuldigungen, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte. Zumindest hoffte sie das.
—
Atticus‘ Traum verwandelte sich in einen Albtraum.
Er war von Dunkelheit umgeben, die Welt war kalt und leer.
Seine Füße fühlten sich schwer an, als er sich durch die Schatten bewegte. Dann sah er sie – Anastasia, seine Mutter.
Ihr Gesicht war blass, ihre Augen vor Angst weit aufgerissen, als eine dunkle Gestalt hinter ihr auftauchte und sie am Hals packte.
Atticus versuchte zu schreien, aber kein Ton kam aus seiner Kehle.
Er versuchte zu rennen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Er war wie angewurzelt und hilflos, als er sah, wie das Leben aus ihren Augen wich.
Die Gestalt warf ihren leblosen Körper wie eine kaputte Puppe zu Boden, und Atticus‘ Herz zerbrach.
Plötzlich änderte sich die Szene. Avalon, sein Vater, stand vor ihm und sah sich einer überwältigenden Welle von Feinden gegenüber. Er kämpfte tapfer, aber die Übermacht war zu groß. Im Nu wurde er niedergeschlagen und sein Körper sackte zu Boden.
„Nein … nein, bitte …“
Einer nach dem anderen tauchten die Gesichter seiner Familie, seiner Freunde und seiner Lieben vor seinen Augen auf, jeder einzelne wurde von der Dunkelheit verschlungen, während Atticus wie erstarrt dastand und machtlos war, etwas zu tun.
„Nein …“
Atticus schreckte hoch, rang nach Luft, sein Herz raste, als würde es aus seiner Brust springen. Seine Augen huschten durch den Raum, in der Erwartung, seinen schweißgebadeten Körper zu sehen, aber das war nicht der Fall.
Der Raum war hell – der Morgen war angebrochen, Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und warfen lange Schatten auf den Boden.
Er setzte sich auf, immer noch schwer atmend, und sah sich in dem leeren Raum um. Er hätte schwören können, dass er im Schlaf jemanden bei sich gespürt hatte, aber jetzt … war niemand da.
Sein Kopf war noch benebelt von den Resten des Albtraums, aber als sein Blick auf die Ecke des Zimmers fiel, kamen die Erinnerungen der letzten Tage zurück und die ganze Last traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Freyas Tod. Die Beerdigung. Sein Versagen.
Atticus sank zurück auf das Bett, bedeckte seine Augen mit dem rechten Arm und Tränen begannen erneut zu fließen.
Er schluchzte leise, die Trauer war noch frisch und schmerzhaft. Er hatte versagt. Er hatte sie nicht beschützen können. Er hatte sie nicht retten können. Er hatte in dem Moment, als es darauf ankam, nicht stark sein können.
„Es tut mir leid … Es tut mir leid …“, murmelte er leise, die Worte ein verzweifeltes Flehen an das Universum, als könnte er irgendwie die Zeit zurückdrehen. Wenn er das nur könnte.
Doch dann, inmitten seiner Trauer, kamen ihm Freyas Worte aus dem Brief wieder in den Sinn. Sie hatte ihm gesagt, er solle sich keine Vorwürfe machen. Sie hatte ihm gesagt, dass es nicht seine Schuld sei. Atticus wischte sich die Tränen weg und atmete zittrig, während er versuchte, sich zu beruhigen.
Er konnte nicht weiter grübeln. Er konnte nichts tun, um die Vergangenheit zu ändern.
Diese Worte hallten in seinem Kopf wider.
Da wurde ihm etwas klar, eine offensichtliche Tatsache. Freya war nicht gestorben, weil ihre Zeit gekommen war – sie war ermordet worden.
Ermordet vom Obsidian-Orden. Und es gab nur einen Grund, warum er das nicht hatte verhindern können.
Weil er schwach gewesen war.
Atticus ballte die Faust an seiner Seite. Wäre er stärker gewesen, hätte er keine Zeit in Sektor 6 verschwendet, hätte er keinen Deal mit Seraphina machen müssen, hätte er es rechtzeitig schaffen können. Er hätte sie retten können.
Nur eine Sache konnte alles ändern.
Macht.
Seine Gedanken rasten, er spielte die Schlacht in seinem Kopf immer wieder ab, und dann sah er es. Das Gesicht der Frau, die Anastasia und Freya am Hals gepackt hatte, die seiner Großmutter das Leben ausgesaugt hatte.
Seine Wut brodelte, eine kalte Wut, die sich tief in seiner Brust festsetzte. Er hätte sie an diesem Tag fast getötet, und jetzt – so absurd es auch klang – war er froh, dass er es nicht getan hatte.
Ein schneller Tod wäre Gnade gewesen.
Sein Blick wurde kalt, als sich seine Gedanken zu einem einzigen, brennenden Wunsch nach Rache verdichteten. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, seine Fingernägel gruben sich in seine Handflächen, während sich das Bild des Gesichts dieser Frau in sein Gedächtnis brannte.
Sie hatten das verursacht. Sie hatten jemanden getötet, den er liebte. Und sie würden dafür bezahlen.
Jeder einzelne von ihnen.
Atticus‘ Atem beruhigte sich, seine Entschlossenheit wurde hart wie Stahl. Sein Weg war jetzt klar. Er konnte die Vergangenheit nicht ändern, aber er konnte die Zukunft kontrollieren.
Und in dieser Zukunft würde er dafür sorgen, dass der Obsidianorden für das bezahlen würde, was er getan hatte.
Er würde sie alle dafür bezahlen lassen.
Atticus spürte, wie sein Wille schärfer und entschlossener wurde, während die Last seiner jüngsten Erkenntnisse schwer auf ihm lastete.
Er holte tief Luft, atmete langsam aus und wandte sich dann einer bestimmten Schattengestalt zu, die in der Ecke seines Zimmers lauerte.
„Arya“, rief er.
Es kam keine Antwort, aber Atticus war nicht überrascht. Er wusste, dass sie da war.
Der Atticus von heute war nicht mehr mit dem von früher zu vergleichen. Er konnte sie spüren, selbst wenn sie sich im Schatten versteckte. Er seufzte leise, weil er verstand, was sie fühlen musste.
„Willst du mir jetzt nicht gehorchen?“, fragte er.
Es verging ein Moment, bevor Arya aus dem Schatten trat, den Kopf tief gesenkt. „Es tut mir leid, junger Herr“, sagte sie mit leicht zitternder Stimme.