Atticus war immer noch nicht aufgewacht. Zwei Tage waren vergangen, und er war immer noch bewusstlos.
Anastasia hatte sich keinen Moment von seiner Seite entfernt. Sie saß neben ihm und strich ihm sanft über sein schneeweißes Haar.
Trotz der Heiltränke, die Avalon ihr gegeben hatte, zeigte Anastasias Körper immer noch Zeichen des Alters. Die Verbrennungen und Wunden waren verheilt, aber die Spuren, die Elysia mit ihrer lebensraubenden Fähigkeit hinterlassen hatte, waren deutlich zu sehen.
Sie war gealtert, ihre Lebenskraft war ihr weit mehr geraubt worden, als jeder Trank wiederherstellen konnte.
Sie saß schweigend da und sah ihren Sohn liebevoll mit sanften Augen an. Arya stand still im Schatten und beobachtete die beiden.
Seit dem Ende der Schlacht war Arya ungewöhnlich still, ihre Gedanken waren von tiefer Scham erfüllt, die sie vor allen verbarg.
Währenddessen betrat Avalon in einem anderen Teil des Ravenstein-Anwesens einen Raum, seine Augen waren rot und blutunterlaufen, sein Gesicht blass und müde.
Seine ganze Stimmung war schlecht, und die Feuermoleküle, die normalerweise warm um ihn herum tanzten, flackerten jetzt kalt und spiegelten die Traurigkeit und Wut in ihm wider.
Als er ging, traf er Magnus, der direkt vor der Tür stand. Magnus‘ Präsenz war so schwer wie immer, aber diesmal spürte Avalon etwas anderes in seinem Vater – etwas, das er noch nie zuvor gespürt hatte. Traurigkeit. Unwilligkeit.
Es war das erste Mal, dass Avalon Magnus so sah. Der Mann, der immer selbstbewusst gewesen war, immer von allem überzeugt, stand nun da mit einer Last auf den Schultern, die selbst er nicht abzuschütteln schien.
Die beiden Männer – Vater und Sohn – sahen sich einen Moment lang in die Augen. Keiner sagte was, aber es brauchte keine Worte.
Beide wussten, wie tief der Schmerz des anderen war. In diesem riesigen Anwesen, umgeben von Familie und Macht, waren sie einfach zwei trauernde Männer.
Sie nickten einander in stiller Übereinstimmung zu, ohne ein Wort zu sagen, als sie aneinander vorbeigingen.
Avalon hielt kurz inne und sah, wie Magnus vor der Tür stehen blieb.
Und dann, in einem Moment, den Avalon nie für möglich gehalten hätte, holte Magnus – ein Mann, der nur wenige Tage zuvor die gesamte Menschheit erschüttert hatte – tief Luft.
Er sammelte seine Kräfte, bevor er den Mut aufbrachte, den Raum zu betreten.
Avalon setzte seinen Weg fort, seine Beine bewegten sich ziellos durch das Anwesen. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, seine Gedanken waren abwesend. Er bewegte sich wie ein verlorener Mann, eine hohle Hülle des Kriegers, der er einst gewesen war.
Bald gesellten sich drei Gestalten zu ihm – Sirius, Lyanna und Nathan. Sie sagten nichts, aber ihre Anwesenheit reichte aus.
Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten Siege und Niederlagen geteilt und kannten Avalon besser als jeder andere. Es gab nichts, was sie sagen konnten, um seinen Schmerz zu lindern.
Sie konnten ihm nicht zurückgeben, was er verloren hatte. Aber sie konnten da sein und schweigend neben ihm hergehen.
Als Avalons gedankenverlorener Gang sie zu einem Gebäude im südlichen Teil des Anwesens führte, tauschten die drei einen Blick aus, und ihre Mienen veränderten sich, als sie begriffen, wohin Avalon wollte.
Hier wurden die Gefangenen festgehalten.
Avalon war das Oberhaupt der Familie Ravenstein, einer der Vier Sterne, und zusammen mit seinen Kameraden gab es keinen Teil des Anwesens, zu dem sie keinen Zugang hatten.
Das Gebäude war kahl und kalt, gebaut, um selbst die mächtigsten Feinde festzuhalten. Und in der durchsichtigen Zelle vor ihnen, in der Mitte des Raumes, saß Helios Stellaris und meditierte. Sobald er die Gruppe hereinkommen sah, stand Helios auf und kniff gefährlich die Augen zusammen.
„Was wollt ihr?“, knurrte er mit tiefer, hasserfüllter Stimme.
Avalon antwortete nicht. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, als er sich der Tür zum Gefängnis näherte, die Warnung der KI ignorierte, sie aufschloss und eintrat.
Der Raum war speziell dafür konzipiert worden, die Nutzung von Blutlinien zu blockieren und die Stärke aller darin befindlichen Personen auf das Niveau eines Anfängers zu reduzieren. Es war ein Ort, an dem selbst die gefährlichsten Individuen in Schach gehalten werden konnten.
Helios spannte sich an, als Avalon eintrat, doch dann grinste er und knackte mit den Fingerknöcheln, während er einen Schritt nach vorne machte. „Na, na … sieh mal einer an. Keine Blutlinien. Kein Mana. Dann kann ich dich wohl zu Brei schlagen, bevor ich sterbe, was?“
Für Helios war der Grund, warum er zuvor gegen Avalon verloren hatte, dessen überwältigende Kraft, Mana und mächtige Blutlinie gewesen. Aber jetzt war all das weg. Das war seine Chance – seine einzige Gelegenheit, sich an dem Mann zu rächen, der ihn gedemütigt hatte.
Helios machte einen weiteren Schritt auf Avalon zu, aber noch bevor sein Fuß den Boden berühren konnte, hallte ein brutaler Knall durch die Zelle.
Avalons Faust traf Helios‘ Gesicht mit einem widerlichen Knacken und riss den Kopf des Mannes heftig nach hinten. Das Grinsen auf Helios‘ Gesicht verschwand und machte Schock und Schmerz Platz.
Und dann war es nicht einmal mehr ein Kampf.
Avalon stürzte sich auf ihn und ließ eine Flut von Schlägen auf ihn niederprasseln, die mit vernichtender Kraft einschlugen. Jeder Schlag war härter als der vorherige, angetrieben von einer Trauer, die kein anderes Ventil hatte.
Helios, benommen und unfähig, sich zu verteidigen, brach unter den unerbittlichen Schlägen zusammen.
Sirius, Lyanna und Nathan standen vor der Zelle und beobachteten die Szene, ohne ein Wort zu sagen.
Sie verstanden, was Avalon durchmachte. Manchen mag das falsch erscheinen – schließlich war der Obsidianorden für Freyas bevorstehenden Tod verantwortlich, nicht die Familie Stellaris. Aber Trauer kümmert sich nicht um Logik oder Fairness.
Avalon war nie ein perfekter Mann gewesen. Er war ein trauernder Sohn, und sie hatten nicht die Absicht, seinen Schmerz zu unterbrechen.
…
Magnus stand in der Tür des Raumes, den er gerade betreten hatte.
Er hatte unzählige Schlachten geschlagen, unmögliche Herausforderungen gemeistert, und doch war das, was sich ihm nun bot, etwas, das er mit einer Angst fürchtete, die tiefer war als jede Kriegsangst.
Dort lag Freya schwach auf dem Bett. Elysia hatte ihr leider so viel Lebenskraft entzogen, dass ihr Körper nicht mehr am Leben bleiben konnte.
Freya hob ihren ruhigen, gelassenen Blick zu ihm und ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Du bist endlich gekommen, um mich zu sehen, was?“, neckte sie ihn sanft, ihre Stimme schwach, aber immer noch voller Wärme, wie sie es immer gewesen war.
Magnus sagte nichts und starrte sie nur an.
Freya lächelte noch ein bisschen breiter, und trotz der Schwäche ihres Körpers strahlte ihr Geist immer noch aus ihren Augen. „Du warst schon immer der starke, schweigsame Typ … aber das ist ein bisschen viel, findest du nicht?“