Seit Atticus in Eldoralth wiedergeboren worden war, hatte er viele Gefühle erlebt. Glück, Traurigkeit, Wut, Angst, Aufregung, Stolz, Bitterkeit, Hass … Die Liste war endlos.
Doch trotz dieser ganzen Gefühle hatte Atticus nie die Fassung verloren. Er hatte immer einen klaren Kopf behalten und auf die Situation reagiert.
Aber jetzt spürte er etwas Neues, etwas, das er noch nie zuvor erlebt hatte: Entsetzen. Es war wie eine Steigerung des Gefühls der Angst – eine Angst, die Wirklichkeit geworden war.
Tief in seinem Inneren wusste Atticus, dass das eine Lüge war, aber etwas verwirrte seinen Verstand, etwas, das er nicht verstehen konnte und das ihn glauben ließ, dass es die Wahrheit war.
Egal, Atticus‘ Verstand war von diesem Gefühl überwältigt, und deshalb verlor er die Fassung, die er seit seiner Ankunft in Eldoralth bewahrt hatte.
Atticus schrie aus tiefster Seele.
„DU MISTKERL!!“
Sein Entsetzen wurde sofort von einem überwältigenden Verlangen nach Rache ersetzt. Er würde diesen Mistkerl dafür bezahlen lassen.
Aber der Mann war nirgends zu finden.
Atticus‘ Blick huschte durch den Raum, aber er konnte ihn nirgends entdecken. Er drehte den Kopf zur Seite und sah, dass Avalon nicht mehr auf dem Boden lag.
Bevor Atticus die Situation begreifen konnte, wiederholte sich dieselbe Szene. Die Dunkelheit wich zurück und Atticus sah denselben Mann, der die Waffe auf den Kopf von jemandem richtete.
Aber diesmal war es nicht Avalon.
Stattdessen war es die ramponierte Gestalt von Ember, deren puppenhaftes Gesicht vor Wut verzerrt war.
Der Mann grinste Atticus noch einmal wahnsinnig an, bevor er begreifen konnte, was geschah.
Und dann:
BANG!
Ember fiel leblos zu Boden.
„W-was …“
Atticus‘ Mund zitterte, sein Verstand war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
„Em-Ember?“, murmelte er nach ein paar Sekunden, aber diesmal liefen ihm zwei Tränen über die Wangen.
Atticus hatte keine Zeit, andere Gefühle zu empfinden, bevor sich die Szene wieder änderte und Caldor anstelle von Ember erschien, begleitet von einem weiteren lauten Knall.
Atticus‘ Herz erstarrte, sein ganzer Körper war wie gelähmt, während sich die Szene weiter veränderte und die Figur, die erschossen wurde, sich ständig wechselte.
Er sah Aurora, Zoey, Nate, Lucas und die anderen Ravenstein-Jugendlichen vor seinen Augen getötet werden. Und jedes Mal, wenn er dieses wahnsinnige Grinsen sah und den Schuss hörte, fühlte es sich an, als würde etwas in ihm zerbrechen.
Atticus spürte, wie er die Kontrolle über seinen Verstand verlor, als würde etwas versuchen, seinen Willen zu verschlingen.
Aber er versuchte nicht, dagegen anzukämpfen. In seinen Augen war nur noch Hoffnungslosigkeit zu sehen. All seine Anstrengungen, all die schlaflosen Nächte und die harte Arbeit, um stärker zu werden, waren dazu bestimmt, diejenigen zu beschützen, die ihm lieb waren, egal was es kostete.
Aber es war, als wäre alles umsonst gewesen. Er konnte nichts tun, während alle vor seinen Augen getötet wurden.
Atticus leistete keinen Widerstand. Er spürte, wie ihm sein Wille genommen wurde.
Aber dann sah er die nächste Szene.
Es war genau wie die anderen. Eine Waffe war auf eine ramponierte und blutüberströmte Person gerichtet, und der Mann grinste Atticus wahnsinnig an. Diesmal gab es jedoch einen kleinen Unterschied.
Diesmal war die Person seine Mutter Anastasia. Und anders als die anderen hatte sie trotz ihrer schrecklichen Lage ein warmes Lächeln auf den Lippen, als sie Atticus ansah.
In diesem Moment kam ihm nur ein Gedanke in den Sinn:
„Das ist typisch für sie.“
Es war typisch für Anastasia, sich ihm gegenüber wie eine fürsorgliche und liebevolle Mutter zu verhalten, obwohl sie dem Tod nahe war. Sie hatte ihn immer, ohne Ausnahme, an erste Stelle gesetzt.
Sie war seine Mutter.
Es fühlte sich an, als würde eine Flamme in ihm entbrennen, ein kleines Licht inmitten endloser Dunkelheit. Die Leblosigkeit in Atticus‘ Gesicht begann zu schwinden, und seine Arme spannten sich so stark an, dass Blut aus ihnen tropfte.
Was tat er da? Was zum Teufel tat er da? Seine Familie liebte ihn genauso sehr, wie er sie liebte. Keiner von ihnen würde zögern, sich für ihn zu opfern.
Warum zum Teufel stand er hier und grübelte, während sie getötet wurden? Was machte es schon, dass er keine Macht hatte, es zu verhindern? Er würde diese Macht bekommen!
Eine spürbare rote Aura brach aus Atticus hervor und der gesamte Raum bebte. Es schien, als wäre die Dunkelheit um ihn herum eine Barriere, die den gesamten Raum umgab, und etwas versuchte, hineinzukommen und schlug wiederholt dagegen.
Bald darauf brach die Barriere zusammen und eine intensive rote Welle brach in den Raum ein.
Zum ersten Mal zeigte der Mann mit der Waffe einen anderen Gesichtsausdruck, sein Gesicht wurde ernst.
Doch Atticus hatte sich bereits bewegt.
Ein blauer Blitz schoss vorwärts, erreichte den Mann und schlug mit voller Wucht horizontal mit dem Katana zu.
Der Mann hatte nur Zeit, leichte Überraschung zu zeigen, bevor ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht erschien.
Das Katana durchschlug ihn und sein Kopf wurde von seinem Körper getrennt. Atticus steckte sein Katana in die Scheide, während der Körper zu Boden fiel und der Kopf leblos davonrollte.
Die rote Welle verschlang weiterhin den Raum und Atticus wandte seinen Blick zu Anastasia, die auf dem Boden kniete. Sie hatte immer noch das gleiche warme Lächeln auf ihrem Gesicht.
Der kalte Ausdruck auf Atticus‘ Gesicht schmolz dahin und er lächelte warm.
„Danke, Mama“, flüsterte Atticus, als er Anastasias beruhigendes Nicken sah, bevor sie sich in Lichtpartikel auflöste. Sie war nur eine Erfindung seiner Fantasie, und doch verhielt sie sich genau so, wie sie es in der Realität getan hätte.
Atticus holte tief Luft. Sowohl Anastasia als auch der Bastard waren bereits verschwunden, und die rote Welle füllte den Raum um ihn herum.
Er ging alles, was gerade passiert war, noch einmal in seinem Kopf durch und versuchte, seine neue Einstellung zu festigen. Atticus hatte heute etwas Wertvolles gewonnen.
Etwas Wichtiges – ein Symbol. Ein Bild, das er sich immer vorstellen konnte, wenn er sich unsicher fühlte. Etwas, das ihn dazu bringen würde, weiterzukämpfen, egal was passierte. Etwas, das ihn daran erinnern würde, wofür er kämpfte.
Atticus stellte sich das perfekte Bild von Anastasia vor, wie sie lächelte, und die restlichen Teile der dunklen Barriere zerbrachen wie Glasscherben.
Die rote Welle umhüllte Atticus vollständig, und er spürte, wie sein Geist klar wurde.