Nach einer Stunde war Anastasia mit dem Meeting fertig.
Das war ein wöchentliches Treffen, an dem alle Chefs der wichtigen Familienzweige teilnahmen.
Anastasia wurde über alles informiert, was gerade so los war, egal ob es um die Geschäftswelt und die möglichen Schritte des Ravencrest-Konsortiums ging oder um Infos, die der Silent Nexus in der Menschenwelt gesammelt hatte.
Dank der neuen Technik war alles viel einfacher geworden, und die Mitglieder mussten nicht mehr persönlich zum Meeting kommen.
Sie verließ den Besprechungsraum zusammen mit Arya und ging durch das Anwesen zu einem großen Gebäude in der Nähe des Zentrums. Dieses Gebäude war nach der Größe und dem Ansehen das zweitwichtigste nach dem Hauptgebäude.
Als sie sich dem Gebäude näherte, öffneten sich die Türen nach einem kurzen Scan und Anastasia und Arya traten ein.
Sie ging vertraut durch das Gebäude und betrat nach einer Minute einen Raum.
Der Raum war riesig, und Anastasia stand auf einer erhöhten Plattform und blickte auf eine Flut von Bildschirmen und fleißig arbeitenden Mitarbeitern.
Unter ihr standen in einem Kreis lange Tische, an denen Menschen vor einzelnen Bildschirmen saßen.
Jeder war in seine Arbeit vertieft und schaute nicht einmal auf, wer hereinkam.
In der Mitte des Raumes zeigte ein riesiger, wandgroßer Bildschirm einen umfassenden Überblick über verschiedene Teile des Sektors. Es war ein faszinierendes Bild aus Echtzeitinformationen, mit Karten, Daten und Live-Videobildern, die sich ständig veränderten.
Dieser Raum war die zentrale Leitstelle des gesamten Sektors, von wo aus die Familie Ravenstein mit Hilfe ihrer Satelliten den gesamten Sektor überwachte.
Von diesem Raum aus konnte jeder einzelne Ort im Sektor überwacht werden. Einige Orte in anderen Sektoren konnten ebenfalls überwacht werden, allerdings würde dies die dortige Regierung alarmieren.
Anastasia suchte den Raum nach Personen ab und fand sofort ihr Ziel. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und starrte vor sich hin, völlig in Gedanken versunken.
Sie ging auf ihn zu, aber selbst als sie ganz nah war, bemerkte er sie nicht.
Anastasia runzelte die Stirn, denn Frauen hassen es am meisten, wenn Männer ihnen keine Aufmerksamkeit schenken.
„Ähm“, räusperte sie sich hörbar. Das Geräusch schien Avalon aus seinen Tagträumen zu reißen.
Er drehte sich um und sah Anastasia, die ihn anstarrte.
„Oh, Schatz, wann bist du gekommen?“, fragte Avalon unbeholfen, als er Anastasia sah.
„Gerade“, antwortete sie. Als sie Avalons Aussehen sah, wurde ihr Gesichtsausdruck traurig.
Avalon schien sprachlos zu sein. Er hatte riesige Augenringe, sein Bart war ungepflegt und er trug sogar noch die Kleidung vom Vortag.
Auch nach all den Jahren hatte Avalon nicht aufgehört, nach Ariels Mörder zu suchen.
Als er Anastasias traurigen Gesichtsausdruck sah, kratzte sich Avalon verlegen am Hinterkopf, eine Geste, die er in letzter Zeit oft machte. „Keine Sorge, Anna, ich werde schon …“, wollte Avalon Anastasia beruhigen, doch sie ging plötzlich auf ihn zu, packte seine Hand und zog ihn aus dem Zimmer.
Avalon wollte zunächst protestieren, hielt sich aber sofort zurück, als er Anastasias Blick sah. Sie würde kein Nein als Antwort akzeptieren.
Anastasia zog Avalon mit sich hinaus und ging durch das Anwesen zurück zum Haupthaus, ohne dass einer von beiden ein Wort sagte.
Nach ein paar Minuten kamen Anastasia und Avalon im Arbeitszimmer an. Arya blieb draußen, um jeden aufzuhalten, der sie stören wollte.
Anastasia ließ seine Hand los, ging in die Mitte des Raumes und sagte: „Spiel die letzte Playlist.“
Sofort antwortete eine roboterhafte Stimme: [Wird abgespielt…]
Im Hintergrund erklang beruhigende klassische Musik, und Anastasia streckte ihre Hände nach Avalon aus, um ihm ihre Absicht klar zu machen. Sie bat ihn, mit ihr zu tanzen.
Avalon sah seiner Frau in die Augen und verstand, dass sie ihn nicht nur fragte; er hatte keine andere Wahl, als zuzustimmen. Mit einem leisen Seufzer ging er zu ihr hinüber und nahm ihre Hand.
Ohne ein Wort zu sagen, begannen die beiden, sich im Rhythmus der Musik zu bewegen, ließen sich von ihr einhüllen und fanden Trost in der Umarmung ihres Partners.
Nach ein paar Minuten, ihren Kopf an Avalons Brust gelehnt, sagte Anastasia mit sehnsüchtiger Stimme: „Ich vermisse dich, Schatz.“
Avalons Herz zog sich sofort zusammen. Er wusste, dass er Anastasia schon seit einiger Zeit vernachlässigt hatte, aber er konnte nichts dagegen tun.
Egal, wie sehr er sich auch bemühte, sich auszuruhen oder zu schlafen, Ariels Gesicht tauchte immer wieder in seinem Kopf auf. Es war sogar so schlimm geworden, dass es seinen Schlaf beeinträchtigte. Obwohl er ein Großmeister war, der wochenlang ohne Schlaf auskommen konnte, musste er sich irgendwann doch ausruhen.
Das war einer der Gründe, warum er Ronad so schnell wie möglich finden wollte. Aber als er sah, wie traurig Anastasia war, zog sich sein Herz zusammen.
Er zog sie noch näher an sich heran und wollte gerade etwas sagen, als Boman plötzlich ins Arbeitszimmer stürmte und beide erschreckte.
Bevor sie überhaupt fragen konnten, was los war, sprach Boman schnell, und jedes Wort schien ihre Welt zu erschüttern.
„Es ist schon über eine Stunde her, und das Raven-Lager hat sich noch nicht gemeldet! Alle Kommunikationswege sind unterbrochen, und das Portal reagiert nicht!“
Unmittelbar nach diesen Worten gab es keine Antwort, keine Bestätigung, kein einziges Wort.
Doch plötzlich umhüllte eine überwältigende Aura den gesamten Raum und breitete sich bis zur Villa aus.
Avalon entfesselte seine ganze Aura als Großmeister und mit einer explosionsartigen Geschwindigkeit implodierte der Boden im Arbeitszimmer und Avalon durchbrach die Wände der Villa, als wären sie aus zerbrechlichem Glas.
Anastasia, Arya und Boman folgten ihm dicht auf den Fersen, während er durch die Luft schnitt.
Doch bevor Avalon das Anwesen verlassen konnte, zerriss ein Blitz mit einer Geschwindigkeit, die jeder Realität widersprach, die Atmosphäre.
Die Geschwindigkeit war so extrem, dass sich der Raum selbst zu verzerren und zu zittern schien, als würde er sich mühsam an diese Kraft anpassen.
Auf den Blitz folgte ein ohrenbetäubender Donnerschlag, und fast sofort traf die Schockwelle das Anwesen.
Das gesamte Anwesen bebte, einige der Gebäude konnten der Schockwelle nicht standhalten und stürzten sofort ein.
Jeder unterhalb des Expertenrangs auf dem gesamten Anwesen der Ravensteins verlor durch den enormen Druck und den Aufprall das Bewusstsein, während die Expertenrangs ihre Trommelfelle platzten und Blut aus ihren Ohren spritzte.
Überall im Reich der Menschen richteten die Mächtigen ihren Blick gen Himmel.
Keiner von ihnen wusste warum, aber alle wussten:
Magnus Ravenstein hatte sich bewegt.