Als Atticus den Friedhof des Ravenstein-Anwesens erreichte, sah er eine breite Gestalt am Eingang stehen.
Nate Ravenstein.
Nate stand wie eine Statue da, den Blick auf den Eingang des Friedhofs gerichtet, verloren und abwesend. Selbst als Atticus sich neben ihn stellte, reagierte er nicht.
Er starrte nur vor sich hin, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt.
Atticus sagte nichts. Das einzige Geräusch war das leise Rascheln des Windes und das trockene Kratzen der abgefallenen Blätter auf dem Stein.
Nach einigen Sekunden seufzte Nate schwer.
„Atticus.“
Atticus sah weiter geradeaus. „Ja?“
„Gab es … gab es nichts, was du hättest tun können, um ihn zu retten?“, fragte Nate mit brüchiger Stimme.
„Nein.“
Nates Lippen pressten sich zu einer Linie zusammen. „Es ist nur so, dass du der unglaublichste Mensch bist, den ich kenne. Wenn jemand ihn hätte aufhalten können, dann hättest du es gewesen sein müssen.“
„Wenn ich gewusst hätte, was er vorhatte“, sagte Atticus mit eiskalter Stimme, „hätte ich ihn getötet.“
Es folgte Stille, und der sanfte Wind wurde scharf und kalt.
Es gab keinen Zweifel, dass Atticus jedes Wort ernst meinte.
Nate lachte leise und gebrochen, auf eine Art, die sowohl Belustigung als auch Trauer ausdrückte.
„Das ist typisch für dich. Kalt und gnadenlos bis auf die Knochen. Du kannst nicht einmal einen trauernden Bruder anlügen.“
Atticus antwortete nicht. Er stand einfach nur da und schwieg.
Nach einem Moment atmete Nate leise aus und sagte:
„Weißt du, als ich Lucas zum ersten Mal traf, war mein erster Eindruck, dass er ein dürrer Junge war, der nichts in der Familie Ravenstein zu suchen hatte, geschweige denn in unserer Welt überleben konnte.“
Er lachte leise. „Ich mochte ihn nicht. Ehrlich gesagt dachte ich: Ist dieser Typ wirklich ein Ravenstein? Ich habe ihm meine Meinung auch ganz klar gesagt. Und weißt du, was er getan hat?“
Nate lachte erneut. „Er hat mich zu einem Kampf herausgefordert. Es war total absurd … dieser kleine Winzling, der kaum Muskeln hatte und da stand, als hätte er etwas zu beweisen.“
„Ich habe gegen ihn gekämpft. Und ich habe verloren.“
Diesmal lachte er lauter und herzlicher. Selbst jetzt konnte er es noch immer kaum glauben.
„Ich wollte der beste Krieger der Familie Ravenstein sein, weißt du? Und ich habe gegen diesen dürren Jungen verloren. Ich schämte mich so sehr, dass ich tagelang mein Zimmer nicht verlassen habe. Meine Eltern haben alles versucht, aber sie konnten mich nicht herausholen.“
Sein Lächeln wurde breiter. „Schließlich kam er zu mir. Zuerst habe ich ihn ignoriert … aber dann hat er mich erneut herausgefordert. Und ich konnte nicht ablehnen.“
„Ich habe wieder verloren.“
Nate schüttelte den Kopf und lachte wieder. „Wir haben unzählige Male gekämpft. Und jedes Mal, nachdem er mich zu Boden geschlagen hatte, versuchte er mich mit einem Lächeln wieder aufzurichten. Ich weigerte mich jedes Mal. Ich forderte ihn immer wieder heraus, drängte ihn zurück und dachte, ich müsste einfach nur stärker werden.“
Er hielt inne. „Aber irgendwann, nach einer weiteren Niederlage, sah Lucas mich an und sagte: ‚In dieser Welt wirst du scheitern, wenn du nur auf dich selbst achtest.'“
Nates Stimme wurde leise. „Es war wie eine Erleuchtung. Da machte es einfach klick.“
„Wir haben wieder gekämpft. Und ich habe gewonnen.“ Er lächelte. „Ich war so begeistert, so verdammt glücklich, dass ich alles vergessen habe, was ich früher über ihn gedacht hatte. Von diesem Moment an waren wir verbunden. Wir wurden so eng befreundet, dass man uns Brüder nennen konnte.“
Dann ballte Nate seine Fäuste so fest, dass seine Knöchel weiß wurden.
„Atticus“, sagte er mit brüchiger Stimme.
„Sie haben nicht mal erlaubt, dass sein Grabstein auf dem Friedhof aufgestellt wird.“
Der Ravenstein-Friedhof war riesig, erstreckte sich über eine große Fläche und bot Platz für die Gräber aller Ravensteins, die dort begraben werden wollten. Es war heiliger Boden, der für diejenigen reserviert war, die die Familie für würdig erachtete.
Eine letzte Ehre für die Toten.
Aber Lucas Ravenstein war als Verräter gebrandmarkt worden.
Und für Verräter gab es keine Ehre.
„Er hat etwas Unverzeihliches getan“, sagte Nate bitter. „Aber er war mein Bruder … und jetzt habe ich nichts mehr. Kein Grab. Kein Grabstein. Nicht einmal einen Ort, an dem ich seiner gedenken kann.“
Tränen liefen Nate über das Gesicht, bevor er sie schnell mit dem Handrücken wegwischte.
Sie hatten drei Jahre zusammen in der Akademie und ein Jahr im Militärlager verbracht.
Alles, was Lucas besaß, hatte er bei sich gehabt: seinen Raumring, seine Habseligkeiten, seine Erinnerungen.
Aber jetzt war alles weg.
Trotzdem sagte Atticus kein Wort. Er stand einfach nur da und hörte zu.
Dann sprach Nate wieder, aber seine Stimme klang angespannt und leise.
„Atticus … Ich weiß, das klingt vielleicht egoistisch, und vielleicht hat er es nicht verdient, aber ich flehe dich an … bitte erfülle ihm seinen letzten Wunsch.“
Er biss die Zähne zusammen, als ihm neue Tränen über die Wangen liefen. „Ich weiß, dass ich schwach bin. Ich weiß, dass ich nichts tun kann … Deshalb bist du der Einzige, an den ich mich wenden kann. Bitte … Wenn ich dir etwas bedeute, auch nur ein bisschen, wenn du es nicht für ihn tun kannst, dann tu es für mich.“
Atticus seufzte leise.
„Weißt du, warum ich hier bin?“
Nate blinzelte und versuchte, sich zu sammeln. „Um mich aufzuheitern …?“
„Nein.“
„Bevor wir zum Bankett gegangen sind, habe ich mir geschworen, mich mehr darum zu bemühen, wirklich für die Menschen in meinem Leben da zu sein. Deshalb bin ich hier. Um zu sehen, was mit dir los ist. Aber das heißt nicht, dass ich das Problem lösen werde.“
Er hielt inne und sein Blick wurde kalt.
„Lucas‘ Handlungen haben nicht nur mich bedroht, sie haben das Leben von Menschen gefährdet, die mir wichtig sind. Und für mich … ist das eine Grenze, die man nicht überschreiten darf. Eine, die nicht rückgängig gemacht werden kann.“
„Wenn er nicht sein Leben geopfert hätte … hätte ich ihn getötet.“
Atticus‘ Stimme war eiskalt.
„Und ich weigere mich, seine Tat zu ehren, indem ich einen seiner Wünsche erfülle, selbst wenn er ihn mit seinem letzten Atemzug ausgesprochen hat.“
„Die Antwort lautet nein.“
Nate ballte erneut die Fäuste, zitterte leicht und wandte sich dann von ihm ab.
„Ich verstehe. In Ordnung“, sagte er leise.
Er blickte zurück zum Eingang des Friedhofs und sagte kein Wort mehr.
Atticus, der sein Ziel erreicht hatte, nämlich zu verstehen, was mit Nate los war, drehte sich um und ging weg, sodass er mit seinen Gedanken allein blieb.
Als er zurück zu seinem Trainingsraum ging, blieb sein Gesichtsausdruck ruhig. Das Gespräch hatte nichts in ihm ausgelöst. Alles, was er zu Nate gesagt hatte, entsprach seiner wahren Meinung.
Lucas war zwar tot, aber als Atticus sich an Aurora und die anderen erinnerte, wie sie verwundet waren und fast ihr Leben verloren hätten, kam ihm der Tod wie eine milde Strafe vor. Hätte es eine Möglichkeit gegeben, Lucas zurückzuholen, hätte er es getan, nur um ihm ein weitaus brutalereres Ende zu bereiten.
