Zoey weinte die ganze Nacht.
Der Wald war total still. Das einzige Geräusch, das durch die Bäume hallte, war das Schluchzen eines jungen Mädchens mit lila Haaren, eines Mädchens, dessen Schönheit Kriege auslösen könnte.
Aber im Moment war nichts Schönes an ihr.
Ihr Gesicht war voller Tränen und dicker Rotz.
Ihre Beine hatten in dem Moment nachgegeben, als Atticus gegangen war, und sie war auf den weichen Boden gekippt.
Ihr zerbrechlicher Körper zitterte, ihre Hände bedeckten ihr Gesicht, während sie verzweifelt versuchte, die endlosen Tränen wegzuwischen.
Aber egal, wie sehr sie sich auch abwischte, es kamen immer mehr, wie ein reißender Wasserfall.
Ihre Kleidung war tränennass.
Ihr Körper zitterte unkontrolliert.
Und wieder einmal in ihrem Leben weinte Zoey hemmungslos.
Sie fühlte alles.
Scham.
So viel Scham, dass sie kaum atmen konnte.
Wie sollte sie ihm jemals wieder unter die Augen treten?
Atticus war immer nur gut zu ihr gewesen.
Er war sanft gewesen. Fürsorglich. Zärtlich.
Er hatte so viel Talent, so viel Ansehen, so viel, worauf er stolz sein konnte, und dennoch hatte er sie wie eine Gleichberechtigte behandelt. Mit nichts als Liebe und Respekt.
Er war gut.
Zu gut.
Und was hatte sie getan?
Sie hatte alles durch Eifersucht ruiniert.
Sie war schwach gewesen. Eine Närrin.
Sie hatte genau den Menschen beneidet, der ihr nichts als Liebe entgegengebracht hatte.
Ihre Finger gruben sich in den Dreck, ihr Atem ging stoßweise, ihr Herz schmerzte.
„Ich verdiene das Schlimmste.“
„Ich verdiene ihn nicht.“
Dunkle Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und sie dachte daran, einfach wegzulaufen.
„Vielleicht wäre es einfacher, wenn …“
Eine kleine Gestalt flatterte vor ihr herum.
Zoey sah verschwommen die zierliche Gestalt vor sich.
Lumindra.
Die Gestalt sagte nichts.
Sie sah Zoey nur an, ihr Blick voller Traurigkeit.
Zoey konnte sie nicht klar erkennen, aber das war auch nicht nötig.
Weitere Tränen strömten ihr über die Wangen.
„L-Lumi …“, würgte Zoey hervor.
Sie schniefte, ihre Nase lief, ihre Stimme brach.
„L-Lumi, ich bin ein schlechter Mensch.“
Die Worte kamen voller Schmerz über ihre Lippen.
„Ich habe ihn nicht verdient. Ich verdiene das Schlimmste. Ich weiß nicht, wie ich ihm jemals wieder in die Augen sehen soll.“
„Ich weiß nicht, wie ich jemals weitermachen soll.“
„Ich will einfach nur, dass alles aufhört.“
Ihre Finger krallten sich in ihre Handflächen.
„Es tut so weh.“
Lumindra schwieg.
Sie war ein jahrhundertealter Geist, der schon alles gesehen hatte. Nichts sollte sie aus der Ruhe bringen können.
Und doch –
als sie auf das Wrack eines Mädchens vor sich starrte …
Dasselbe Mädchen, das sie aufwachsen gesehen hatte. Das Kind, für das sie da gewesen war, bei all ihren ersten Schritten.
Ihre ersten Schritte.
Ihre ersten Worte.
Ihr erstes Lachen.
Das erste Mal, als sie entdeckt hatte, wofür sie kämpfen wollte.
Zoey war einst rein gewesen.
Ein Mädchen voller Leben, voller Entschlossenheit.
Und jetzt …
War sie das hier.
Ein gebrochenes Wrack.
Tränen traten Lumindra in die Augen.
Sie trat vor und umarmte Zoey.
Ihre zierlichen Arme umfassten kaum Zoey’s zitternden Körper, aber die Wärme, die sie ihr gab, war überwältigend.
Eine Wärme, von der Zoey nicht gewusst hatte, dass sie sie brauchte.
Zoey weinte noch heftiger, noch lauter und klammerte sich an Lumindra, als hätte sie Angst, sie könnte verschwinden.
Lange Zeit sagte Lumindra nichts.
Sie ließ einfach Zoey’s Schluchzen die Luft erfüllen.
Und dann endlich durchbrach ihre Stimme die Stille.
„Wut.“
„Hass.“
„Neid.“
„Eifersucht.“
„Schmerz.“
„Liebe.“
„Freude.“
„Hoffnung.“
„Glück.“
Ihre Stimme war leise. So leise, dass sie beruhigend wirkte. Ein sanfter Hintergrund für Zoey’s Weinen.
„Jedes fühlende Wesen in diesem Universum ist dazu verdammt, diese Gefühle zu empfinden. Es sind Gefühle, denen du nicht entkommen kannst.“
„Niemand in diesem Universum ist perfekt.“
Zoey schniefte, ihr Schluchzen wurde etwas leiser, während Lumindra weiterredete.
„Jedes Gefühl muss gefühlt werden.“
„Aber was zählt, ist, wie du dich davon formen lässt.“
„Wie du zulässt, dass sie dein Leben beeinflussen.“
Lumindra lehnte sich etwas zurück und sah zu Zoey mit ihrem tränenüberströmten Gesicht auf.
Ihre nächsten Worte waren bestimmt.
„Zoey, du hast ein Ziel.“
„Eines, das du fast dein ganzes Leben lang verfolgt hast.“
„Vergiss das nicht.“
„Wirst du dich von deinen Emotionen zerstören lassen? Oder wirst du sie als Antrieb nutzen?“
Zoey riss die Augen weit auf.
Ihre Tränen flossen weiter, aber jetzt war etwas anderes in ihnen zu sehen.
Etwas Neues.
Lumindras Blick wurde streng.
„Du hast zwei Möglichkeiten.“
„Du kannst dich für den Rest deines Lebens in Selbstmitleid suhlen.“
„Niemals wachsen. Niemals vorankommen.“
„Zusehen, wie alle um dich herum stärker werden … und dich zurücklassen.“
Ihre Stimme wurde streng.
„Oder.“
„Du kannst deinen Arsch hochkriegen.“
„Wisch deine Tränen weg.“
„Und nutze all diese Emotionen, um dich selbst anzutreiben.“
„Um dein Ziel zu verfolgen wie nie zuvor.“
„Vergiss nicht, warum du hier bist, Zoey. Du hast die Wahl.“
Es herrschte Stille zwischen ihnen, und Lumindra beobachtete sie.
Zoey weinte immer noch, aber jetzt …
waren ihre Tränen anders.
Denn diesmal waren sie nicht nur voller Scham.
Sie brannten vor etwas anderem.
Wut.
Zoey war wütend.
So wütend auf sich selbst.
Sie hatte es fast vergessen.
Sie hatte fast vergessen, warum sie sich entschieden hatte, den Krieg zu beenden.
Warum sie Eldoralth und alle seine Bewohner retten wollte.
Warum sie sich überhaupt für dieses Ziel entschieden hatte.
Ein Flüstern kam über ihre zitternden Lippen:
„Tante …“
Die Welt um sie herum verschwamm und dann –
erinnerte sie sich.
…
Das Starhaven-Anwesen war ein prächtiger Ort, ein hoch aufragender Palast, der in den Himmel ragte.
Ein kleines Mädchen, nicht älter als sechs Jahre, stand mit gesenktem Kopf da, die kleinen Hände zu Fäusten geballt.
Ihr violettes Haar fiel in sanften Wellen über ihren Rücken, ihre leuchtenden amethystfarbenen Augen waren trüb.
Ihr gegenüber stand eine große, königliche Frau, deren Präsenz beeindruckend war.
Celestial Starhaven.
Ihre Mutter.
„Zoey“, sagte Celestial mit kalter, unnachgiebiger Stimme.
„Du musst immer eine Aura der Überlegenheit ausstrahlen.“
Bleib über My Virtual Library Empire auf dem Laufenden
„Du bist die nächste Matriarchin der Familie Starhaven. Du musst dich auch so benehmen.“
Zoey senkte ihren kleinen Kopf noch tiefer.
„Ja, Mama …“
Celestials Blick wurde schärfer.
„Mutter.“
Zoey schluckte und korrigierte sich leise.
„Ja, Mutter.“
Celestial musterte sie einen langen Moment, nickte dann, wandte sich ab und entließ sie mit einer Handbewegung.
Zoey atmete leise aus, als sie in ihr Zimmer geschickt wurde.
In dem Moment, als sie eintrat, schwang die Tür wieder auf.
Zoey blinzelte …
Und strahlte dann.
„TANTE JEREVA!!!“
Ein strahlendes, zahniges Grinsen breitete sich auf ihrem kleinen Gesicht aus, und im nächsten Moment stürzte sie vorwärts und warf sich in die Arme der Frau, die in der Tür stand.
Eine jüngere Frau, weit weniger streng als Celestial, mit einem warmen Lächeln und sanften, freundlichen Augen.
Ihre Tante Jereva.