Leon stieg direkt nach seiner Rückkehr aus Olivias Hotelzimmer in sein Kapselgerät. Er wollte sich für ein Online-Meeting mit Elincia, Maylock und Goldrich bereit machen. Das war eine der coolen Sachen an Immortal Legacy: Die Spieler konnten sich in einen digitalen Meetingraum einloggen, wo nur ihre Avatare in einem futuristischen Rahmen rumschwebten. Als Leon ankam, sah er, dass die anderen drei schon mit ihren Avataren warteten.
„Hey, Broken …“, begrüßte Maylock ihn als Erster. „Sieht so aus, als würden dich große Probleme verfolgen, egal wo du hingehst, was? Diesmal ist das auch keine Ausnahme.“
„Khi khi khi“, lachte Goldrich. „Die Hölle selbst – ein völlig neuer Ort. Aber selbst ich hätte nicht erwartet, dass die Situation so eskalieren würde.“
Broken nickte mit seinem Avatar nur zur Bestätigung und blieb still, als das Meeting begann.
Elincia mischte sich ein: „Wenn wir euch nur begleiten und euch bei der Herausforderung helfen könnten.“
„Das könnten wir, wenn wir wüssten, wie wir dorthin kommen“, antwortete Maylock. „Aber im Moment scheint das sinnlos.“
Nachdem die Smalltalk-Phase vorbei war, konzentrierte sich Maylock darauf, das Video zu überprüfen, das Broken von seinem Kampf mit Gremory aufgenommen hatte, sowie die zusätzlichen Informationen, die er bereitgestellt hatte.
„Ehrlich gesagt, fällt mir keine bessere Lösung ein, als dass ihr drei alles gebt, um diese Herausforderung zu meistern“, fügte Maylock hinzu, nachdem er sich das Video angesehen hatte.
Elincia nickte. „Aber selbst dann bist du dir nicht sicher, ob sie gewinnen können, Maylock?“
„Ich sage es nur ungern, aber ja, die Chancen stehen immer noch sehr schlecht“, antwortete Maylock. „Es sei denn, Broken, du hast noch ein Ass im Ärmel.“
„Khi khi khi …“, lachte Goldrich. „Das ist eine Aufgabe, mit der selbst das gesamte Team der Ass-Gilde zu kämpfen hätte, Broken. Ich will euch nicht demoralisieren, sondern nur zeigen, dass eine einfache Lösung hier nicht funktionieren wird.“
Mit „einfacher Lösung“ meinte Goldrich die typische Strategie, sich dem Dämon wiederholt zu stellen, bis man alle seine Angriffsmuster herausgefunden hat. Das war ein gängiger Ansatz, aber gegen einen benannten Dämon wie Gremory würde das eindeutig nicht ausreichen. Wiederholung und Lernen könnten helfen, aber sie würden weit mehr brauchen, um diese Herausforderung zu meistern.
Nach der langen Diskussion blieb die Schlussfolgerung entmutigend. Selbst Maylock war trotz seines strategischen Verstandes überzeugt, dass ein Sieg noch lange nicht sicher war. Aber einen Plan zu haben war besser, als sich ohne Strategie in einen brutalen Kampf zu stürzen.
Mit einigen neuen Informationen und der Möglichkeit, die Synergie zwischen den drei Göttlichen Champions zu erkunden, klammerte sich Leon an einen Funken Hoffnung. Mit einem besseren Plan hatten sie vielleicht eine Chance gegen Gremory, den benannten Dämon.
Aber ohne Zweifel waren benannte Dämonen echt nervig. Und dieser hier war nur auf Platz 50 – wie sah es dann erst mit denen aus, die noch höher rangierten?
Leon schob diese schweren Gedanken beiseite, als ihn die Erschöpfung in einen tiefen Schlaf zog, fast so, als würde er von seinem Bett verschluckt werden. Verdammt, es geht hier nicht nur darum, gegen Dämonen zu kämpfen, dachte er, während er in den Schlaf sank. Es geht darum, mit zwei Frauen klarzukommen, die ständig aneinandergeraten und sich streiten.
Sicherlich war es viel komplizierter, zwischen Menschen zu vermitteln, als sich irgendwelchen Monstern zu stellen.
An diesem Morgen, es war Montag, war Lily bereits weg, als Leon aufwachte. Er machte sich schnell fertig, frühstückte und betrat dann wieder die Kapsel, um sich mental auf die unvermeidliche Spannung zwischen den beiden Frauen vorzubereiten. Verdammt, dachte er, diese Diskussion wird nicht einfach werden.
Sollte er eine härtere Haltung einnehmen? Dominanter sein? Oder sie einfach ihre Differenzen unter sich ausmachen lassen?
Der Gedanke kam ihm in den Sinn – es war schon schwierig genug, mit nur zwei Menschen fertig zu werden, die sich nicht verstanden. Wie schafften es Gildenmeister, ganze Gruppen mit Dutzenden oder sogar Hunderten von Mitgliedern zu führen, von denen jeder seine eigenen Probleme hatte? Der Druck der Führungsrolle lastete schwer auf ihm, noch bevor das Gespräch überhaupt begonnen hatte.
Als Broken sich einloggte, sah er, dass die beiden Frauen schon online waren – und wie erwartet in einen heftigen Streit verwickelt waren, in dem sie sich mit scharfen Bemerkungen attackierten. In dem Moment, als er auftauchte, verstummten sie jedoch beide. Selbst durch ihre Avatare war die Spannung zwischen ihnen spürbar.
„Hey Leute, guten Morgen!“, sagte Broken und versuchte, fröhlich zu klingen.
Verdammt, das passt so gar nicht zu mir, dachte er.
Keine von beiden antwortete. Die Stille hing in der Luft, voller ungelöster Spannung.
Was würde Elincia in dieser Situation tun? fragte er sich. Nein, Elincia würde einfach schreien und sie zwingen, nachzugeben, aber das war nicht sein Stil. Was war mit Paul? Paul, der arrogante Gildenmeister, würde wahrscheinlich seine Dominanz behaupten und alle mit purer Willenskraft in die Knie zwingen. Aber so handelte Leon auch nicht.
Ich werde einfach ich selbst sein müssen, beschloss er und tat so, als würde er die Spannung zwischen ihnen nicht bemerken. Doch die richtigen Worte zu finden, um das Eis zu brechen, erwies sich als schwieriger als gedacht.
„Also, fangen wir an, okay? Wir haben viel zu besprechen. Ich habe euch schon die Videoaufnahmen und die Analyse meines Freundes zu Gremory geschickt“, sagte Broken schließlich, obwohl er die angespannte, unangenehme Stimmung in der Online-Konferenz spürte.
Es war seltsam – mit den beiden Mädchen konnte er sich einzeln ganz locker unterhalten, aber hier war die Spannung fast zum Greifen.
Er fuhr fort, ihre Strategie anhand der von Maylock vorbereiteten Daten und seiner eigenen Analyse zu erläutern. Es hätte eigentlich ganz einfach sein sollen.
„Broken, sag ihr, sie soll aufhören, auf eigene Faust zu kämpfen. Ihre Bewegungen sind zu aggressiv und schlampig, das bringt die Koordination des Teams durcheinander.“
Broken erstarrte für einen Moment.
„Broken“, fuhr Charmelyn ihn an. „Sag ihr, dass ein Assassine so kämpft. Vielleicht hat sie Schwierigkeiten, ihre Hundegestalt zu kontrollieren, weil sie es gewohnt ist, mit einer Peitsche zu kämpfen, aber immer noch denkt, sie sei eine Art Genie. Spoiler: Das ist sie nicht.“
Verdammt! Sie gehen immer noch aufeinander los! Jemand muss mir helfen!
„Hust!“, räusperte sich Broken. „Hört zu, Leute, hier ist der Plan. Blade Phantom konzentriert sich auf das Kamel, während Marlene sich um Gremory kümmert. Ich wechsle die Rollen je nach Situation, aber so können wir den Schaden besser verteilen und unsere Strategie optimieren.“
Er erklärte die Details weiter und zerlegte jeden Teil des Plans in seine Einzelteile. Trotz der anfänglichen Anspannung und der heftigen Wortgefechte schienen sich nach einigen intensiven Diskussionen alle über die Strategie einig zu sein.
Ein wichtiger Ratschlag von Maylock blieb ihm besonders im Gedächtnis: Maylock hatte Broken gebeten, den gesamten Kampf aus mehreren Blickwinkeln aufzunehmen – sowohl aus der Perspektive von Charmelyn als auch aus der von Marlene –, als hätte er bereits geahnt, dass auch ihr zweiter Versuch scheitern könnte.
„Verdammt, ich muss mich wirklich an Niederlagen gewöhnen, besonders wenn ich es mit einem so starken Gegner wie einem benannten Dämon zu tun habe.“
Nach dem Treffen loggten sich alle aus, nachdem sie sich auf den genauen Zeitpunkt für ihren nächsten Login geeinigt hatten. Was auch immer passieren würde, sie mussten gleichzeitig ins Spiel gehen und den Plan präzise ausführen. Zumindest waren sie dieses Mal besser vorbereitet.
Leon machte sich Sorgen wegen der angespannten Stimmung zwischen Charmelyn und Marlene. Er konnte nur hoffen, dass sie ihre Differenzen beilegen würden. Es war offensichtlich, dass Marlene Charmelyns Verhalten nicht verzeihen konnte. Sie waren von Anfang an dazu bestimmt, Feinde zu sein, aber jetzt zwangen sie die Umstände zu einer unbehaglichen Allianz.
Leon warf einen Blick auf den Countdown auf dem Bildschirm seines Capsule Device. Als die Zeit ablief, aktivierte sich das Gerät, zog sein Bewusstsein zurück ins Spiel und transportierte ihn in die Welt der Dämonen – direkt in den Thronsaal von Herzog Gremory.
Welches Schicksal erwartete die drei diesmal?
