Aria saß in der Stille ihres Zimmers und ließ ihren Blick über die vertrauten, aber fernen Ecken ihrer Vergangenheit schweifen. Die Erinnerungen an ihre Kindheit waren wie Schatten – schwach, verschwommen und schwer zu fassen. Sie konnte sich nicht klar an ihre Eltern erinnern; sie waren eher wie flüchtige Echos als echte Gestalten.
Das Einzige, was ihr aus diesen frühen Jahren in Erinnerung geblieben war, war ihr Großvater, eine imposante Gestalt, die ihr alles gegeben hatte, was sie brauchte, aber nie die Wärme echter Zuneigung.
Er kam gelegentlich zu ihr, immer müde, seine erschöpften Augen spiegelten die Last seiner endlosen Verantwortung wider. Obwohl sie sich danach sehnte, die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken, hielten ihre eigene Angst und eine Reife, die sich eher wie ein Schutzschild als wie eine Stärke anfühlte, sie davon ab, das Wort zu ergreifen.
Sie lernte, sich mit stiller Entschlossenheit durch die weitläufigen, hallenden Hallen ihres Anwesens zu bewegen und suchte Trost in den endlosen Reihen von Büchern. Die Bibliothek wurde zu ihrem Zufluchtsort, einem Ort, an dem Magie, Strategie und Geschichte die Leere füllten, die durch das Fehlen menschlicher Beziehungen entstanden war.
Als sie zur Schule kam, versuchte ihr Großvater, sie in die Welt der anderen Kinder zu integrieren. Lyra, Emeric und Ren wurden ihre Klassenkameraden, und für eine Weile hatte Aria die Hoffnung, dass sie so etwas wie Freundschaft finden könnte.
Doch trotz aller Bemühungen blieb die Einsamkeit, ein ständiger Begleiter, der ihre aufkeimenden Freundschaften überschattete. Neun Jahre vergingen in diesem düsteren Tanz aus Einsamkeit und kurzen, bruchstückhaften Begegnungen.
Dann kam der Tag ihres Erwachens. Arias Herz schlug höher, als sie ihre Affinität zu allen fünf Elementen entdeckte – Feuer, Luft, Wasser, Erde und Blitz. Ihre Fähigkeit wurde als galaktische Stufe 3 eingestuft, doch ihr Großvater entschied sich, sie als solare Stufe 4 bekannt zu geben, um ihr wahres Potenzial zu verbergen.
Der Name ihrer Fähigkeit, „ChronoVeil“, war geheimnisvoll und faszinierend zugleich. Sie ermöglichte es ihr, den Fluss der Zeit von der Vergangenheit bis zur Gegenwart zu sehen. Sie konnte jederzeit in die Vergangenheit blicken, ohne dass es irgendwelche Nebenwirkungen oder Rückschläge gab.
Ihre Aufregung war spürbar, ein seltener Moment echter Freude. Für einen flüchtigen Moment schien es, als würde ihr Großvater wirklich an ihrem Erfolg glauben. Doch als sie versuchte, ChronoVeil einzusetzen, blieb die Kraft unerreichbar. Trotz der Anleitung ihres Großvaters und verschiedener Methoden, um das Potenzial zu entfesseln, sah sie nur bruchstückhafte Einblicke in ihre einsame Vergangenheit, eine grausame Erinnerung an die Isolation, die sie empfand.
„Übe einfach weiter, dann klappt es schon“, hatte ihr Großvater gesagt, doch seine Worte konnten den Schmerz ihres vermeintlichen Versagens kaum lindern. Seine ruhige Ermutigung wirkte wie eine Maske für seine Enttäuschung und vertiefte die Schatten in ihrem Herzen.
Dann kamen die Akademieprüfungen, und Aria übertraf alle Erwartungen. Aber zu ihrer Überraschung erzielte ein anderer Schüler – jemand, der genauso einsam und verloren wirkte, wie sie sich einst gefühlt hatte – noch bessere Ergebnisse. Diese mysteriöse Gestalt faszinierte sie, und ein Funke Neugierde entfachte ihr sonst so gleichgültiges Wesen. Doch er verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war, und hinterließ Aria mit mehr Fragen als Antworten.
Erst an einem regnerischen, stürmischen Tag änderte sich alles. Der Himmel zuckte vor Blitzen, und die Wucht des Sturms schien Arias inneres Unwetter widerzuspiegeln. An diesem Tag durchbrach endlich Licht die Dunkelheit, die ihr Leben umgab, als hätte der Sturm selbst den Weg für etwas Neues und Tiefgründiges freigemacht.
„Hmmm …“
Aria saß auf ihrem Bett und die Erinnerungen an diesen stürmischen Tag kamen mit lebhafter Klarheit zurück. Der Tag, an dem zum ersten Mal seit Monaten ihre Kraft wirklich erwacht war. Sie lächelte bei dem Gedanken und erinnerte sich daran, wie der Regen und der Sturm die chaotischen Gefühlsstürme widerspiegelten, die sie empfunden hatte. Der Himmel hatte gedonnert und die Straßen der Stadt waren nass und dunkel und spiegelten die Turbulenzen in ihr wider.
Sie hatte gerade ihr neues Zimmer im Studentenwohnheim bezogen und war aufgeregt und nervös zugleich wegen des Neuanfangs. Der Regen prasselte heftig auf das Dach der Akademie und bildete eine rhythmische Kulisse für die Wut der Natur.
Aber dann passierte es – ihre Sicht verschwamm und Dunkelheit umhüllte sie.
Aria hatte nichts weiter erwartet als die üblichen Schatten ihrer einsamen Vergangenheit. Stattdessen wich die Dunkelheit einer unerwarteten Szene.
Sie sah, wie es genauso stark regnete wie draußen, und zwei Gestalten durch enge Gassen huschten. Es waren ein Junge und ein Mädchen, deren Gesichter teilweise vom Regen verdeckt waren. Sie rannten vor einer Gruppe maskierter Gestalten davon, und Aria konnte die Verzweiflung in ihren Bewegungen spüren.
Die Szene wechselte abrupt, und sie sah, wie die beiden Figuren in die Enge getrieben und umzingelt wurden. Die Gasse war jetzt von Nebel und Rauch erfüllt, sodass man kaum etwas erkennen konnte.
Dann tauchte eine neue Gestalt aus den Schatten auf – eine weitere maskierte Person, aber anders als die anderen. Diese Gestalt schien eine Aura stiller Stärke und Entschlossenheit auszustrahlen. Sie trat hervor, um das Mädchen und den Jungen zu retten, und ihre Anwesenheit war wie ein flüchtiger Lichtblick in dem Chaos.
Arias Herz schmerzte vor einer verwirrenden Mischung aus Bewunderung und Traurigkeit, als sie den Kampf beobachtete. Die dritte Gestalt kämpfte tapfer, aber es war ein ungleicher Kampf. Seine Bewegungen waren verzweifelt, seine Schläge eher auf Überleben als auf Meisterschaft ausgerichtet. Es war klar, dass er unterlegen war. Trotz seiner Tapferkeit überwältigten ihn die maskierten Gestalten, und bald war er blutüberströmt und erschöpft.
Der Anblick war fast unerträglich. Die maskierten Gestalten ließen ihn dort liegen, besiegt und allein. Als er auf dem Boden lag, sah Aria zum ersten Mal sein Gesicht – ein Gesicht, das von Einsamkeit, Erleichterung und Erschöpfung gezeichnet war. Es war derselbe junge Mann, der sie bei den Aufnahmeprüfungen besiegt hatte, der ihr aufgefallen war, den sie aber nie wirklich verstanden hatte.
Die Vision endete abrupt und hinterließ Aria mit schwerem Herzen. Ihre Augen füllten sich unwillkürlich mit Tränen, als sie sich an die Szene erinnerte. Sie war so auf ihre eigenen Kämpfe und ihre Isolation konzentriert gewesen, dass sie das Leiden der anderen um sie herum nicht wahrgenommen hatte. Der junge Mann, die einsame Gestalt, die ihr einst wie ein ferner Rivale erschienen war, hatte eine Selbstlosigkeit und einen Mut gezeigt, die ihr Herz durchbohrten.
Der Sturm draußen hatte aufgehört und eine tiefe Stille hinterlassen. Aria fühlte eine seltsame Verbindung zu dem jungen Mann, als wären ihre Wege auf eine Weise miteinander verflochten, die sie noch nicht ganz verstehen konnte.
Und sie wollte mehr über diese Verbindung herausfinden.
Entschlossen, diese Verbindung zu verstehen, verließ sie ihr Zimmer auf der Suche nach ihm, angetrieben von einem neu gefundenen Sinn.
„… Nein“, murmelte Aria nostalgisch. „… Ich wollte ihn nur finden … und ihn retten …“
„Aber wie sich herausstellte … waren wir dazu bestimmt, uns gegenseitig zu retten.“
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(A/N: Hier ist das Kapitel, das ich schon früher schreiben wollte, aber zurückgehalten habe. Es handelt ein wenig von Arias Vergangenheit und ihrer Fähigkeit und warum sie sich in Adrian verliebt hat.)