A/N: Achtung: Die nächsten Kapitel haben heftige Beschreibungen von Gewalt, Blut und emotionalen Traumata. Das sollte man sich gut überlegen, bevor man weiterliest.
______
Blitze zuckten durch den sturmschwarzen Himmel und trafen Aurelius mit vernichtender Präzision. Die Luft schien vor uralter Kraft zu knistern, schwer vom Gewicht verbotener Magie.
Evangeline stand regungslos am Rand des Rituals, ihre äußere Ruhe täuschte über ihre intensive Konzentration hinweg. Allein durch ihre Willenskraft lenkte sie die rohe Energie, die durch seinen zuckenden Körper strömte, und verband sie mit dem Äther, der durch seine Adern floss. Ohne ihren Schutz wäre er innerhalb weniger Augenblicke umgekommen – sein Körper wäre beim dritten oder vierten Blitzschlag zu Asche zerfallen.
Der Bereich um sie herum pulsierte mit jedem Blitzschlag, und Schatten tanzten wie Lebewesen über die verwüstete Landschaft. Währenddessen blieb Evangeline wachsam und dirigierte mit subtilen Fingerbewegungen die tödliche Symphonie der Kräfte.
Ihr linkes Auge – eine Quelle absoluter Dunkelheit, die das Licht zu verschlingen schien – drang durch Fleisch und Knochen, sogar durch den Geist hindurch und suchte nach dem Wesen seines Seins. Doch selbst dort entzog sich ihr etwas.
Etwas weigerte sich, sich ihrer Prüfung zu unterwerfen.
Sein Wesen flackerte wie eine Flamme im Wind, wechselte zwischen den Ebenen und entzog sich jedem Verständnis. Egal, wie präzise sie die Kräfte, über die sie verfügte, manipulierte, dieses Kernelement blieb unerreichbar, als würde man versuchen, Rauch mit bloßen Händen zu greifen.
„Kalin“, hauchte sie, und Verachtung lag in ihrem Namen. Die Luft schien bei diesen Worten kälter zu werden.
Die „Gabe“ des Wesens – sein geschwärztes Auge – erwies sich gegen dieses Rätsel als nutzlos. Was auch immer in Aurelius wohnte, weigerte sich, seine Geheimnisse preiszugeben, als hätte es einen eigenen Willen, ein eigenes Bewusstsein, das sich aktiv gegen ihre Nachforschungen wehrte.
Die Luft flimmerte wie Hitzewellen über Wüstensand, und Rhea erschien neben ihr, eine stille Wächterin, die die Barrieren aufrechterhielt, die ihren verborgenen Raum umgaben.
Trotz ihrer üblichen Gelassenheit war sie angespannt, als sie den Umkreis gegen eindringende Seelen verstärkte. Ihre Anwesenheit brachte eine andere Energie in den Ritualraum – kühler, kontrollierter, aber nicht weniger kraftvoll.
„Wie hält er sich?“, fragte Rhea leise, wobei ihre persönliche Besorgnis nicht unbemerkt blieb.
Evangeline studierte die unsichtbaren Kraftfäden, die Aurelius banden, bevor sie antwortete, und bemerkte, wie sie bei jedem neuen Energieschub pulsierten und sich verdrehten. Sie wusste um die Gefühle ihrer Schwester für den Jungen – Gefühle, die niemals Früchte tragen konnten. Dieses Wissen fügte ihren ohnehin schon komplexen Emotionen eine weitere Schicht Bitterkeit hinzu. Schließlich betrachtete sie sie als eine ihrer engsten Vertrauten.
„Sein Wesen ist unbegreiflich“, sagte sie schließlich und wählte ihre Worte mit großer Sorgfalt. „Dieses Leiden – wenn man es überhaupt so nennen kann – hat seine Wurzeln nicht in seinem Körper oder Geist, sondern in der grundlegenden Natur seines Wesens. Es schreckt vor jeder Untersuchung zurück, wie ein Lebewesen, das sich in den Tiefen der Schatten zu verstecken versucht.“
„Du glaubst, es ist bei Bewusstsein?“ Rhea kniff leicht die Augen zusammen, ohne ihre Gesten zum Aufrechterhalten der Barriere zu verändern.
„Vielleicht.“ Evangeline zuckte mit den Fingern, um die Grenzen ihres Einflusses auszutesten. Die ätherischen Fäden reagierten wie gezupfte Harfensaiten und sandten Wellen durch das Gewebe der Realität. „Es ist so tief vergraben, dass selbst Kalins gepriesene Kraft kaum an die Oberfläche dringt. Jeder Versuch, einzudringen, stößt auf Widerstand, als würde man gegen eine unsichtbare Wand drücken.“
Ein weiterer Blitz schlug ein und verwandelte die Nacht für einen kurzen, strahlenden Moment in Tag.
Aurelius‘ Körper bäumte sich heftig gegen seine Fesseln, und Evangeline verfolgte den Weg der Energie, während sie mit seinem Wesen verschmolz, auf der Suche nach einer Offenbarung in diesem Chaos. Die Luft füllte sich mit dem scharfen Geruch von Ozon und etwas anderem – etwas Älterem, Ursprünglicherem.
„Und Kalin?“, fragte Rhea mit besorgter Stimme und blickte auf das dunkle Auge ihrer Schwester. „Versteht er dieses Phänomen?“
Ein bitteres Lachen entrang sich Evangelines Lippen und hallte seltsam in der aufgeladenen Atmosphäre wider. „Dieses Wesen behauptet, allwissend zu sein, und doch scheitert es an diesem einen Rätsel. Seine ‚Gabe‘ zeigt mir alles, außer dem, was ich am dringendsten sehen muss. Das ist die Natur von Abkommen mit Wesen wie ihm – sie offenbaren alles, außer dem Wesentlichen.“
Doch Aurelius‘ mysteriöses Leiden hatte ihr etwas Entscheidendes gebracht – einen Schlüssel, nach dem sie jahrelang gesucht hatte. In seinen Tiefen lagen Muster, die an die Krankheit ihrer Schwester erinnerten, anders in ihrer Form, aber ähnlich in der Art, wie sie ihr Wesen aufgezehrt hatten. Das letzte Teil, das sie für ihr Meisterwerk brauchte, versteckt an einem Ort, an dem sie es am wenigsten erwartet hätte.
Ihr Blick wanderte zu den schattenverhangenen Ecken ihres Ritualraums, wo ein sargähnliches Gefäß aus unnatürlichen Metallen glänzte.
Darin lag eine perfekte Nachbildung einer jungen Frau, die mit viel Liebe zum Detail gefertigt worden war. Rhea blieb auf Aurelius konzentriert, aber Evangeline’s Blick wurde weicher, als sie die regungslose Gestalt betrachtete – ihr größtes Werk, ihre tiefste Hoffnung.
„Bald“, flüsterte sie mit einer Stimme voller Sehnsucht und Entschlossenheit. „Dann werden wir wieder zusammen sein.“
Dieses Mal würde es anders sein.
Keine Krankheit würde ihr ihre Schwester wegnehmen. Sie hatte diese neue Gestalt mit allen erdenklichen Schutzmaßnahmen geschaffen und dabei Zauber gewirkt, die alles übertrafen, was sie bisher versucht hatte. Monate der Forschung, Jahre der Vorbereitung, unzählige Opfer – alles hatte zu diesem Moment geführt. Aurelius‘ Leiden hatte ihr gezeigt, wie sie es vollenden konnte. Jetzt fehlte nur noch der letzte Funke Essenz.
Aber zuerst musste sie sich um etwas kümmern.
Etwas, vor dem ihr Liebster sie gewarnt hatte, etwas, das ihr verdächtig vorkam, das sie aber bis jetzt ignoriert hatte.
Ja, es war ganz klar Kalin.
Ihr linkes Auge pochte, als ob das Wesen ihre Gedanken spüren konnte. Er hatte sie durch dieses dunkle Fenster beobachtet und ihre Fortschritte für seine eigenen Zwecke manipuliert. Ihr Moment des Triumphs würde nicht durch seine Anwesenheit getrübt werden. Nicht nach allem, was sie geopfert hatte, um so weit zu kommen.
„Ich weiß von dir, Kalin“, flüsterte sie mit dunkler Belustigung in der Stimme. „Hast du wirklich geglaubt, ich würde deine Manipulationen nicht durchschauen? Deine subtilen Schubsereien, mit denen du mich zu deinen Zielen gelenkt hast?“
Die Macht des Wesens regte sich als Antwort, wie eine Schlange, die sich aus ihrer Windung streckt. Seine „Gabe“ war immer eine Kette gewesen, die sie nun zerreißen würde, bevor er ihre Pläne durchkreuzen konnte. Die Zeit der Täuschung war vorbei.
„Rhea“, sagte sie mit unnatürlich ruhiger Stimme. „Lass mich einen Moment allein. Die Barrieren halten auch ohne deine Anwesenheit.“
Rhea zögerte einen kurzen Moment, Besorgnis huschte über ihr Gesicht, doch dann nickte sie und verschwand in dem schimmernden Schleier ihres geschützten Raumes. Mit ihrem Weggehen wurde die Luft schwerer, als würde die Atmosphäre selbst ahnen, was kommen würde.
Evangeline fuhr mit den Fingern über den Rand ihres blauen Auges, ihre Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln, das jahrelang sorgfältig versteckten Groll verbarg.
„Auf Wiedersehen, du Bastard Kalin“, flüsterte sie, und ihre Stimme war erfüllt von der Befriedigung, die jahrelange sorgfältige Planung ihr verschafft hatte.
Zisch!
Riss.