Der nächste Tag hatte schon angefangen. Die erste Stunde war wieder Elementarmanipulation, und ich konnte ohne Probleme mitmachen. Aber zur zweiten Stunde – Waffenbeherrschung – konnte ich nicht hingehen. Genau wie Ausbilderin Valerie hat mir Ausbilder Darius nicht erlaubt, an den praktischen Übungen teilzunehmen.
Stattdessen gab er mir ein dünnes Buch und sagte mir, ich solle es in der Pause sorgfältig lesen.
Das Buch hieß „Silent Edge: Der Weg der Subtilität“.
„Moment mal, ist das etwa das, was ich denke?“
Neugierig geworden, schlug ich das Buch auf und begann zu lesen. Es beschrieb eine Fünf-Sterne-Schwerttechnik, die auf den ersten Blick täuschend einfach wirkte.
Die beschriebenen Bewegungen waren minimalistisch und konzentrierten sich eher auf Präzision und Timing als auf auffällige Kraftdemonstrationen. Je tiefer ich jedoch in den Text eintauchte, desto mehr begann ich die zugrunde liegende Komplexität und das enorme Potenzial dieser Technik zu verstehen.
Bei der „Silent Edge“ ging es darum, die kleinsten Öffnungen auszunutzen und mit minimalem Kraftaufwand maximale Wirkung zu erzielen. Jede Bewegung war so konzipiert, dass sie nahtlos in die nächste überging und einen Rhythmus schuf, der den Gegner mit seiner Unvorhersehbarkeit überwältigen konnte.
Ich konnte mir gut vorstellen, dass eine so ausgefeilte Technik von Meister Darius selbst entwickelt worden war. Als er noch als „Schwert des Endes“ bekannt war, musste er diesen Stil bis zur Perfektion entwickelt haben. Die Legende von seiner Kampfkunst erschien mir plötzlich viel realer und einschüchternder.
Eine bestimmte Bewegung, „Der flüsternde Schnitt“, fiel mir besonders auf. Es war ein einfacher, horizontaler Hieb, der auf die schwächste Stelle in der Verteidigung des Gegners abzielte. Der Schlüssel lag darin, ihn so schnell und leise auszuführen, dass der Gegner nicht einmal merkte, dass er getroffen worden war, bis es zu spät war. In dem Roman wurde auch erwähnt, dass diese Bewegung allein in vielen Kämpfen von Darius das Blatt gewendet hatte.
Als ich weiterlas, stieß ich auf einen weiteren Move namens „Phantom Step“. Bei dieser Technik machte man einen schnellen, fast unmerklichen Seitenschritt, um Angriffen auszuweichen und sich für einen Gegenangriff neu zu positionieren. In Kombination mit dem Whispering Cut ergab das eine tödliche Kombination, die selbst die erfahrensten Gegner verwirren und besiegen konnte.
Mit jeder Seite wuchs meine Begeisterung. Ich konnte mir vorstellen, wie ich mit diesen Techniken meine Schwertkunst auf ein ganz neues Niveau bringen könnte. Bei „The Silent Edge“ ging es nicht nur darum, einen Gegner zu besiegen, sondern dies mit Eleganz und minimalem Aufwand zu tun und damit die Essenz der Effizienz zu verkörpern.
Nachdem ich das Buch beendet hatte, schloss ich es vorsichtig und verspürte einen neuen Respekt für Ausbilder Darius. Warum auch nicht? Er beherrscht alle Waffen, aber mit seinem Wissen und seiner Erfahrung im Schwertkampf ist er einfach ein Genie!
Es war klar, warum er sich seinen beeindruckenden Ruf verdient hatte. Ich war fest entschlossen, diese Techniken zu üben, sobald mein Arm verheilt war. Moment mal, den Phantomschritt konnte ich doch schon. Ja, genau!
Den Rest des Unterrichts verbrachte ich in stiller Kontemplation, ging die Techniken in meinem Kopf immer wieder durch und stellte mir vor, wie ich sie in meinen eigenen Stil integrieren könnte. Ich konnte es kaum erwarten, sie in die Tat umzusetzen. Ich meine, zu üben.
Aber jetzt taucht eine Frage auf…
Warum hat er mir dieses Buch gegeben?
Obwohl ich in diesen anderthalb Monaten wohl einen guten Eindruck auf ihn gemacht habe, würde ich nicht sagen, dass wir uns besonders nahestehen. Man könnte uns als Lehrer und Schüler bezeichnen, die sich gut verstehen und gut miteinander auskommen.
Aber sollte er dieses Buch nicht eigentlich seinem einzigen Schüler geben? Dass er es auch mir gegeben hat … Ich weiß nicht, was seine Beweggründe sind.
Denkt er vielleicht, dass ich talentiert im Schwertkampf bin? Aber sein Schüler ist auch ein Monster, vielleicht sogar auf Augenhöhe mit dem Talent des Hauptcharakters.
Oder bin ich einfach nur ein Spinner, der zu viel in alles hineininterpretiert?
Andererseits hat er Aurelius auch eine Schwerttechnik beigebracht, als dieser in seinem zweiten Jahr war. Die Technik ist zwar anders, aber mit der in meiner Hand vergleichbar.
Ach, ich bin mir sicher, dass ich am Ende der Stunde die Antworten bekomme, die ich will.
Und wie ich erwartet hatte, bat mich Lehrer Darius nach dem Unterricht, noch zu bleiben, was ich ohne zu zögern zusagte.
Während die anderen Schüler den Raum verließen, blieb ich sitzen und beobachtete Darius voller Vorfreude. Er war eine große, imposante Gestalt mit einem strengen Gesicht, das kaum Emotionen zeigte. Sein Ruf als Meister aller Waffen eilte ihm voraus, und ich konnte nicht umhin, eine Mischung aus Ehrfurcht und Neugierde zu empfinden, was er für mich auf Lager hatte.
„Adrian“, begann er mit ruhiger Stimme, „ich sehe, du hast das Buch gelesen, das ich dir gegeben habe.“
„Ja, Ausbilder“, antwortete ich und hielt das dünne Buch hoch, „die Techniken darin sind unglaublich. Die möchte ich unbedingt lernen.“
„Oh, warum denn? Kannst du mir sagen, was du davon hältst?“, fragte er neugierig.
„Ja“, antwortete ich und begann zu erklären, was ich über das Buch dachte und was ich verstanden hatte.
„Das ist alles, was ich bisher verstanden habe“, sagte ich am Ende meiner Rede.
„Bisher, hm.“ Er lachte leise vor sich hin. „Du bist wirklich ein seltsamer Typ …“
Nun, ich hatte doch nicht Unrecht. Wenn ich die Techniken in die Praxis umsetzen könnte, würde ich bestimmt noch mehr entdecken. Und ich bin nicht seltsam, okay?!
Ach ja, das sollte ich ihn fragen, oder?
„Ähm. Herr Dozent, ich hätte da eine Frage.“
„Nur zu.“
„Warum haben Sie mir dieses Buch gegeben?“, fragte ich, da meine Neugierde überwog.
Dozent Darius hielt einen Moment inne, und ein leichtes Lächeln spielte um seine Mundwinkel. „Einfach weil ich Lust dazu hatte“, sagte er beiläufig.
„Eh?“, platzte es aus mir heraus, verblüfft von seiner direkten Antwort.
Er lachte über meine Reaktion. „Ich sehe, du bist überrascht. Lass mich das etwas näher erklären“, sagte er mit ernster werdender Stimme. „Adrian, ich habe eine Begabung in dir gesehen, ein Talent, das selten ist und gefördert werden sollte. Es wäre schade, dieses Potenzial ungenutzt zu lassen, ohne dass dir jemand zur Seite steht.“
Ich blinzelte und versuchte, seine Worte zu verarbeiten.
„Außerdem erinnerst du mich an jemanden, den ich einmal kannte. Jemand, der denselben Blick hatte, dieselbe Entschlossenheit … dasselbe Schicksal …“
