„Das bin… ich.“
Aurelius starrte Rhea mit großen Augen und sprachlos an. Seine Gedanken rasten, um ihre Worte zu verstehen. Sein gefesselter und bewegungsunfähiger Körper konnte nichts tun, außer zuzusehen, wie sie über der leblosen Gestalt vor ihr stand. Sein Herz pochte in seiner Brust, und die Anspannung wurde mit jeder Sekunde unerträglicher.
Ihre kalte, distanzierte Stimme durchbrach erneut die Stille, als würde sie mehr zu sich selbst als zu ihm sprechen.
„Nein …“, flüsterte sie und starrte auf den regungslosen Körper. „Ich war sie … Es gab keine Rhea. Es gab mich nicht …“
„…!“
Aurelius‘ Puls schlug schneller, sein Atem ging in kurzen, flachen Stößen, während er versuchte zu verstehen, was sie sagte. Er wollte etwas sagen, eine Erklärung verlangen, aber der Knebel brachte ihn zum Schweigen. Er konnte nur zuhören, hilflos und verwirrt, während Rhea weiterredete.
„Meine große Schwester … Evangeline …“ Ihre Stimme zitterte, nicht vor Emotionen, sondern unter der Last einer alten, bitteren Wahrheit.
„Sie sieht mich nicht als ihre kleine Schwester, weil sie mich liebt … Nein.“ Rheas Augen verdunkelten sich, als sie auf die Gestalt blickte. „Sie sieht mich als Ersatz … für sich selbst.“
Aurelius‘ Blick huschte zu der Gestalt, die auf dem kalten Boden lag. Die Bruchstücke ihrer Worte fügten sich langsam zu einem Ganzen zusammen, aber nichts davon ergab einen Sinn. Wer war sie?
Rhea lachte leise und traurig, ihre Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. „Sie nennt mich nicht mal bei meinem richtigen Namen …“, murmelte sie mit vor Wut erstickter Stimme. „Für sie bin ich nicht ich selbst … Ich bin nur … der Schatten einer anderen Person. Jemand, den sie verloren hat …
jemanden, den sie wieder zum Leben erwecken will.“ Sie ballte die Fäuste, ihre Knöchel wurden weiß.
„Meisterin Veda ist nicht anders“, fuhr Rhea fort, ihre Stimme kalt, aber fest. „Sie hat mich nie als ihre Schülerin gesehen … nur als Ersatz. Als Ersatz für ihre erste Schülerin … für Liora. Haha … Wie die Meisterin, so die Schülerin, nicht wahr …“ Ihre Schultern sackten unter der Last des Namens zusammen, als würde ihn allein schon die Erwähnung sie erschöpfen.
Aurelius‘ Herz sank, als er sah, wie sie mit den Worten rang, und sein Geist war voller Verwirrung und Angst. Er hatte Rhea immer als stark empfunden – freundlich und unabhängig, voller Entschlossenheit. Aber die Frau, die jetzt vor ihm stand, wirkte gebrochen, als würde sie sich nur mit Mühe zusammenreißen können.
Rheas Blick wanderte von der leblosen Leiche zu Aurelius. Ihre Augen, einst lebhaft und entschlossen, zeigten jetzt eine seltsame Mischung aus Erschöpfung und Vorwurf.
„Und du …“, sagte sie leise, ihr Ton bitter und doch resigniert. „Bei dir ist es dasselbe, nicht wahr?“
Aurelius stockte der Atem. Er versuchte, den Kopf zu schütteln, um ihre Behauptung zu widerlegen, aber die Seile um seinen Körper hielten ihn fest an seinem Platz. Seine großen, flehenden Augen waren die einzige Antwort, die er ihr geben konnte.
Ihr Gesichtsausdruck blieb unlesbar, als sie mit leiser, fast zerbrechlicher Stimme fortfuhr.
„Ich bin nur ein guter Ersatz, mit dem du deine Zeit verbringen kannst, oder? Eine bequeme Ersatzperson … jemand, der nah genug ist, um die Leere zu füllen und deinen Schmerz zu teilen.“
Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag in die Magengrube.
Aurelius wollte schreien, ihr sagen, dass sie sich irrte, dass er nie so über sie gedacht hatte. Aber der Knebel erstickte seine Stimme und machte ihn machtlos, ihr zu widersprechen.
Rheas Augen bohrten sich in seine, suchten nach etwas, obwohl Aurelius nicht sicher war, wonach. Verständnis? Bestätigung? Oder vielleicht … suchte sie nur nach einer Bestätigung dessen, was sie bereits glaubte.
Die Stille zwischen ihnen zog sich in die Länge, dick und erstickend, als wäre die Luft selbst schwer geworden von all dem Unausgesprochenen.
„R-Rhea …“
Aurelius tat es in der Seele weh. Er wollte zu ihr gehen, ihr zeigen, dass sie kein Ersatz war, dass sie mehr als das war. Aber er konnte nur da stehen, gefesselt und stumm, und hilflos zusehen, wie Rhea am Rande ihres Zusammenbruchs stand.
Sie seufzte, ihr Gesichtsausdruck wurde für einen Moment weicher, bevor die kalte, distanzierte Maske wieder zurückkehrte.
„Vielleicht … ist es nicht ihre oder deine Schuld“, murmelte sie, fast zu sich selbst. „Vielleicht bin ich jetzt einfach so … Ein Schatten.“
Sie wandte sich von ihm ab, die Schultern vor Enttäuschung gezuckt. „Ein Schatten eines Mädchens, das es nicht mehr gibt.“
Aurelius‘ Brust zog sich zusammen, als er sah, wie sie sich in sich selbst zurückzog. Die Worte, die sie gesprochen hatte, die Last ihrer Vergangenheit, all das erdrückte ihn. Er hatte sie noch nie so gesehen, so gebrochen, so weit entfernt von der Person, die er zu kennen glaubte.
Rhea holte tief Luft und sprach mit kaum hörbarer Stimme: „Ich schätze … das ist alles, was ich jemals sein werde.“
Mit diesen Worten verstummte der Raum und es herrschte eine angespannte, bedrückende Stille. Aurelius musste mit der überwältigenden Erkenntnis kämpfen, dass die Frau vor ihm – seine Freundin, seine Verbündete – diese Last schon viel länger trug, als er jemals gedacht hätte.
Aber wie konnte er ihr sagen, dass sie sich irrte? Wie konnte er sie vor dem Schmerz retten, der sie so völlig verzehrte?
Er spürte, wie sie sich von ihm entfernte – verloren in ihrer eigenen Qual, ihre Identität verstrickt in den Schatten anderer. Aber er konnte nicht schweigen. Nicht so.
„Ich muss etwas tun. Ich kann sie nicht in diesem Elend versinken lassen …“
Verzweiflung durchflutete ihn, und Aurelius biss fest auf den Knebel in seinem Mund, ignorierte den brennenden Schmerz in seinen Zähnen und seinem Kiefer. Er strengte sich an, um die Fesseln zu lösen, öffnete den Mund so weit er konnte, die Seile schnitten in seine Haut, der Geschmack von Blut füllte seinen Mund. Aber das war ihm egal.
Mit einem letzten, kräftigen Ruck verschob sich der Knebel so weit, dass er sprechen konnte – gerade so.
„R-Rhea …“
Seine Stimme klang heiser und angestrengt, aber es reichte, um sie innehalten zu lassen.
Rhea erstarrte für einen Moment, den Rücken immer noch zu ihm gewandt. Ihr Schweigen gab ihm den Mut, weiterzusprechen, seine Stimme war eine Mischung aus Dringlichkeit und Erschöpfung.
„Du irrst dich“, krächzte Aurelius und rang um Worte. „Du bist nicht … ein Ersatz.“
Ihre Schultern spannten sich an, aber sie drehte sich nicht zu ihm um.
„Du bist nicht nur der Schatten von jemand anderem. Du bist … du bist Rhea. Du bist … stark. Du bist gütig. Du … du bist echt.“
Rhea lachte bitter und schüttelte den Kopf. „Stark? Gütig? Echt? Glaubst du wirklich, dass ich das bin? Mach dir nichts vor, Aurelius.“
„Ich habe die ganze Zeit nur so getan als ob.“
Aurelius verzog das Gesicht, der Schmerz in seinem Mund war nichts im Vergleich zu dem, was er in seinem Herzen fühlte. Sie musste ihn hören, sie musste verstehen, was er ihr sagen wollte.