„Das ist sie“, sagte Kev. „Warum sollte sie das nicht sein?“
„Weil man eine Frau mit den Ohren wählen sollte, nicht mit den Augen.“
Kev lächelte leicht. „Sehr weise.“ Er sah wieder zu Cam hinunter und fand, dass er immer schlechter aussah. „Wenn ihr Hilfe braucht, um die Trage für ihn zu bauen …“
„Nein, meine Männer sind schnell. Sie sind bald fertig. Aber sie muss gut gemacht und stabil sein, um einen Mann seiner Größe zu tragen.“
Cams Hände zuckten, seine langen Finger zupften unruhig an der Decke, die man über ihn gelegt hatte. Kev nahm die kalte Hand und drückte sie fest, um ihn zu wärmen und zu beruhigen.
Der Rom Phuro starrte auf die sichtbare Tätowierung auf Cams Unterarm, die markanten Linien des geflügelten schwarzen Pferdes.
„Wann hast du Rohan kennengelernt?“, fragte er leise.
Kev warf ihm einen erschrockenen Blick zu und umklammerte Cams Hand noch fester. „Woher kennst du seinen Namen?“
Der Stammesführer lächelte warm. „Ich weiß noch mehr. Du und dein Bruder wart lange getrennt.“ Er berührte die Tätowierung mit seinem Zeigefinger. „Und dieses Mal … du hast auch eins.“
Kev starrte ihn an, ohne zu blinzeln.
Von draußen drangen Geräusche einer kleinen Unruhe herein, und jemand drängte sich durch die Türöffnung. Eine Frau. Überrascht und besorgt sah Kev das Glänzen von weißblondem Haar. „Win!“, rief er, ließ Cams Hand vorsichtig los und stand auf. Leider konnte er in dem niedrigen Fahrzeug nicht ganz aufrecht stehen. „Sag mir, dass du nicht allein hierher gekommen bist. Es ist nicht sicher. Warum bist du …“
„Ich versuche zu helfen.“ Der Rock von Wins Reitkleidung raschelte steif, als sie in den Wagen eilte. Eine ihrer Hände war unhandschuhen, und sie hielt etwas darin. Sie warf dem Rom Phuro keinen Blick zu, so sehr war sie darauf bedacht, Kev zu erreichen. „Hier. Hier.“ Sie atmete schwer von der rasanten Fahrt zum Lager, ihre Wangen waren gerötet.
„Was ist das?“, murmelte Kev, nahm ihr vorsichtig den Gegenstand ab und streichelte ihr mit der freien Hand den Rücken. Er sah auf ein kleines Fläschchen mit Pulver.
„Das Gegenmittel“, sagte sie. „Gib es ihm schnell.“
„Woher weißt du, dass es das richtige Mittel ist?“
„Ich habe Dr. Harrow dazu gebracht, es mir zu sagen.“
„Er könnte gelogen haben.“
„Nein. Ich bin mir sicher, dass er das nicht getan hat, denn in diesem Moment war er fast am Ende – ich meine, er stand unter Druck.“
Kevs Finger schlossen sich um die Flasche. Es gab nicht viel Auswahl. Sie könnten warten, bis sie einen vertrauenswürdigen Arzt konsultiert hatten, aber so wie es aussah, hatte Cam nicht viel Zeit zu verlieren. Und nichts zu tun war auch keine Option.
Kev löste zehn Körner in etwas Wasser auf, weil er dachte, dass es besser war, mit einer schwachen Lösung anzufangen, als Cam mit noch mehr Gift zu überdosieren. Er half Cam in eine sitzende Position und stützte ihn an seiner Brust. Cam war verwirrt und wackelig auf den Beinen und stieß einen Protestlaut aus, als die Bewegung neue Schmerzen in seinen verkrampften Muskeln auslöste.
Obwohl Kev Cams Gesicht nicht sehen konnte, sah er Wins mitfühlenden Blick, als sie sich vorbeugte, um Cams Kiefer zu halten. Sie massierte die steifen Muskeln und öffnete seinen Mund. Nachdem sie ihm die Flüssigkeit aus einem Löffel in den Mund gegossen hatte, massierte sie seine Wangen und seinen Hals und ermunterte ihn zum Schlucken. Cam schluckte die Medizin, zitterte und lehnte sich schwer gegen Kev.
„Danke“, flüsterte Win, strich Cam über sein nasses Haar und legte ihre Handfläche auf seine kalte Wange. „Jetzt wird es dir besser gehen. Bleib ruhig liegen und lass das wirken.“ Kev fand, dass sie noch nie so schön ausgesehen hatte wie in diesem Moment, ihr Gesicht war sanft und voller Zärtlichkeit. Nach ein paar Minuten sagte Win leise: „Seine Gesichtsfarbe wird besser.“
Und auch seine Atmung wurde besser, der unregelmäßige Rhythmus wurde länger und langsamer. Kev spürte, wie Cams Körper sich entspannte, die angespannten Muskeln sich lockerten, als die Wirkstoffe des Digitalis neutralisiert wurden.
Cam regte sich, als würde er aus einem langen Schlaf erwachen. „Amelia“, sagte er mit opiumgeschwängerter Stimme.
Win nahm eine seiner Hände in ihre. „Ihr geht es gut, sie wartet zu Hause auf dich, mein Lieber.“
„Nach Hause“, wiederholte er mit einem erschöpften Nicken.
Kev legte Cam vorsichtig auf die Koje und sah ihn aufmerksam an. Die maskenhafte Blässe verschwand von Sekunde zu Sekunde, und eine gesunde Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Die Schnelligkeit dieser Verwandlung war geradezu erstaunlich.
Die bernsteinfarbenen Augen öffneten sich, und Cam konzentrierte sich auf Kev. „Merripen“, sagte Cam in einem so klaren Ton, dass Kev von Erleichterung überwältigt war.
„Ja, phralT
„Bin ich tot?“
„Nein.“
„Das muss ich sein.“
„Warum?“, fragte Kev amüsiert.
„Weil …“, Cam hielt inne, um seine trockenen Lippen zu befeuchten. „Weil du lächelst … und ich gerade meinen Cousin Noah dort drüben gesehen habe.“
Kapitel zweiundzwanzig
Der Rom Phuro trat vor und kniete sich neben die Koje. „Hallo, Camlo“, murmelte er.
Cam sah ihn verwirrt an. „Noah. Du bist älter geworden.“
Sein Cousin lachte leise. „In der Tat. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, bist du mir kaum bis zur Brust gereicht. Und jetzt siehst du aus, als wärst du fast einen Kopf größer als ich.“
„Du bist nie zurückgekommen, um mich zu holen.“
Kev unterbrach ihn schroff. „Und du hast ihm nie gesagt, dass er einen Bruder hat.“
Noahs Lächeln verschwand, als er die beiden ansah. „Ich konnte beides nicht tun. Zu eurem eigenen Schutz.“ Sein Blick wanderte zu Kev. „Uns wurde gesagt, du seist tot, Kev. Ich bin froh, dass wir uns geirrt haben. Wie hast du überlebt? Wo hast du gelebt?“
