Kev zuckte nicht wegen der Verfilzungen oder wegen des Kamms zusammen. Es war, weil er noch nie in seinem Leben so lange von jemandem berührt worden war. Er war beschämt, innerlich alarmiert … aber als er sich vorsichtig im Raum umsah, schien es niemanden zu stören oder zu interessieren, was Win tat.
Er lehnte sich mit zusammengekniffenen Augen zurück. Der Kamm zog etwas zu stark, und Win murmelte eine Entschuldigung und rieb mit ihren Fingerspitzen über die empfindliche Stelle. So sanft. Es schnürte ihm die Kehle zu und seine Augen brannten. Tief beunruhigt und verwirrt schluckte Kev das Gefühl hinunter. Er blieb angespannt, aber passiv unter ihrer Berührung. Er konnte vor lauter Wohlbehagen kaum atmen.
Als Nächstes legte sie ihm ein Tuch um den Hals und nahm die Schere zur Hand.
„Ich kann das sehr gut“, sagte Win, schob seinen Kopf nach vorne und kämmte ihm die Strähnen im Nacken. „Und dein Haar muss geschnitten werden. Du hast genug Wolle auf dem Kopf, um eine Matratze zu stopfen.“
„Pass auf, Junge“, sagte Mr. Hathaway fröhlich. „Denk daran, was mit Samson passiert ist.“
Kev hob den Kopf. „Was?“
Win drückte ihn wieder nach unten. „Samsons Haare waren seine Kraftquelle“, sagte sie. „Nachdem Delilah sie abgeschnitten hatte, wurde er schwach und von den Philistern gefangen genommen.“
„Hast du nicht die Bibel gelesen?“, fragte Poppy.
„Nein“, sagte Kev. Er hielt still, während die Schere vorsichtig durch die dicken Wellen in seinem Nacken schnitt.
„Dann bist du ein Heide?“
„Ja.“
„Bist du einer von denen, die Menschen essen?“, fragte Beatrix mit großem Interesse.
Win antwortete, bevor Kev etwas sagen konnte. „Nein, Beatrix. Man kann ein Heide sein, ohne ein Kannibale zu sein.“
„Aber Zigeuner essen doch Igel“, sagte Beatrix. „Und das ist genauso schlimm wie Menschen zu essen. Denn Igel haben auch Gefühle, weißt du.“ Sie hielt inne, als eine schwere schwarze Haarsträhne auf den Boden fiel. „Oooooh, wie schön!“, rief das kleine Mädchen. „Kann ich sie haben, Win?“
„Nein“, sagte Merripen barsch, den Kopf immer noch gesenkt.
„Warum denn nicht?“, fragte Beatrix.
„Jemand könnte sie als Unglücksbringer verwenden. Oder für einen Liebeszauber.“
„Oh, das würde ich nie tun“, sagte Beatrix ernst. „Ich möchte sie nur in ein Nest legen.“
„Macht nichts, Schatz“, sagte Win ganz ruhig. „Wenn es unserem Freund unangenehm ist, müssen sich deine Haustiere eben mit anderem Nistmaterial begnügen.“ Die Schere schnitt durch einen weiteren dicken schwarzen Streifen. „Sind alle Zigeuner so abergläubisch wie du?“, fragte sie Kev.
„Nein. Die meisten sind noch schlimmer.“
Ihr leises Lachen kitzelte sein Ohr, ihr warmer Atem ließ ihm eine Gänsehaut entstehen. „Was würdest du mehr hassen, Merripen … das Pech oder den Liebeszauber?“
„Den Liebeszauber“, sagte er ohne zu zögern.
Aus irgendeinem Grund lachte die ganze Familie. Merripen warf ihnen allen einen finsteren Blick zu, konnte aber in ihren Blicken keine Spott finden, nur freundliche Belustigung.
Kev schwieg und lauschte ihrem Geplauder, während Win ihm die Haare schnitt. Es war das seltsamste Gespräch, das er je miterlebt hatte, die Mädchen unterhielten sich ungezwungen mit ihrem Bruder und ihrem Vater. Sie sprangen von einem Thema zum nächsten, diskutierten Ideen, die sie nichts angingen, Situationen, die sie nicht betrafen. Es hatte alles keinen Sinn, aber sie schienen sich köstlich zu amüsieren.
Er hatte nie gewusst, dass es solche Menschen gab. Er hatte keine Ahnung, wie sie so lange überlebt hatten.
Die Hathaways waren eine weltfremde Familie, exzentrisch und fröhlich, die sich mit Büchern, Kunst und Musik beschäftigte. Sie lebten in einem baufälligen Häuschen, aber anstatt Türrahmen oder Löcher in der Decke zu reparieren, schnitten sie Rosen und schrieben Gedichte. Wenn ein Stuhlbein abbrach, klemmten sie einfach einen Stapel Bücher darunter.
Ihre Prioritäten waren ihm ein Rätsel. Und er war noch verwirrter, als sie ihn, nachdem seine Wunden ausreichend verheilt waren, einluden, sich im Dachboden des Stalls ein Zimmer einzurichten.
„Du kannst so lange bleiben, wie du willst“, hatte Mr. Hathaway ihm gesagt, „obwohl ich davon ausgehe, dass du eines Tages aufbrechen wirst, um deinen Stamm zu suchen.“
Aber Kev hatte keinen Stamm mehr. Sie hatten ihn zum Sterben zurückgelassen. Hier war sein Zuhause.
Er begann, sich um die Dinge zu kümmern, die die Hathaways nicht beachtet hatten, wie zum Beispiel die Löcher in der Decke und die morschen Fugen unter dem Schornstein zu reparieren.
Trotz seiner Höhenangst erneuerte er das Strohdach. Er kümmerte sich um das Pferd und die Kuh, pflegte den Gemüsegarten und flickte sogar die Schuhe der Familie. Bald vertraute Mrs. Hathaway ihm an, Geld ins Dorf zu bringen, um Lebensmittel und andere notwendige Dinge zu kaufen.
Nur einmal schien seine Anwesenheit in der Hathaway-Hütte in Gefahr zu sein, und zwar als er bei einer Schlägerei mit einigen Dorfrowdys erwischt wurde.
Mrs. Hathaway war erschrocken, als sie ihn mit blutiger Nase und zerschlagenem Gesicht sah, und verlangte eine Erklärung. „Ich habe dich zum Käsehersteller geschickt, und du kommst mit leeren Händen und in diesem Zustand zurück“, schrie sie. „Was hast du getan, und warum?“
Kev sagte nichts, stand nur mit grimmiger Miene an der Tür und ließ sich beschimpfen.
„Ich dulde keine Brutalität in diesem Haus. Wenn du mir nicht erklären kannst, was passiert ist, dann pack deine Sachen und verschwinde.“
Doch bevor Kev sich bewegen oder etwas sagen konnte, kam Win ins Haus. „Nein, Mutter“, sagte sie ruhig. „Ich weiß, was passiert ist – meine Freundin Laura hat es mir gerade erzählt. Ihr Bruder war dabei.
Merripen hat unsere Familie verteidigt. Zwei andere Jungs haben Beleidigungen über die Hathaways gerufen, und Merripen hat sie dafür verprügelt.“
„Was für Beleidigungen?“, fragte Mrs. Hathaway verwirrt.
Kev starrte mit geballten Fäusten auf den Boden.